72 Stunden Hamburg – Begegnungen mit Print- Passionisten & Kiez-Gestalten und zugleich eine kleine Hommage an die für uns schönste Stadt im Norden Deutschlands
Als Herausgeber dreier (demnächst vier) unabhängiger Magazine, konnten wir uns dem Reiz der IndieCon (Independent Publishing Festival) nicht entziehen. Welcher Magazin-Passionist könnte an diesem Lockruf vorbeilesen:
„Besucher:innen finden Hefte, die ihnen in ihrer Filterblase vielleicht sonst nie begegnet wären und treffen die Menschen hinter den Magazinen – das verbindet!“
Genau das ist es, was den Reiz von Magazinen ausmacht – man wird auf etwas aufmerksam, wonach man im Netz nie gesucht hätte. Dieser schlaumännisch als Serendipity bezeichneter Effekt lässt sich zurückverfolgen bis ins Jahr 1557, zu einem indisch-persischen Dichter mit Namen Amir Chusro.
Aus der zufälligen Beobachtung von ursprünglich nicht Gesuchtem entsteht eine neue, überraschende Entdeckung – wie z.B. die von Kolumbus im Jahre 1492. Habt ihr euch auch, zu den Zeiten des Präsidenten mit dem orange-glitzerndem Haupthaar gewünscht, dass der gute Christopher daran vorbeigesegelt wäre?
Anders sieht es möglicherweise bei den Zufalls-Erfindungen von Penicillin, dem Sekundenkleber, Viagra oder LSD aus? Zurück zur Welt der Magazine. Wir waren neugierig auf Entdeckungen in deren Begegnungsstätte in Hammerbrooklyn – auf die dort stattfindende, internationalste IndieCon ever – mit über 100 MagazinMachern aus der ganzen Welt.
Freitag: Holzhafen, Kiez & Co.
Nach einer außergewöhnlich langen, fünfeinhalbstündigen Anreise, die lediglich durch Schokokekse versüßt wurde, checkten wir in einem unserer Lieblingsplätze in Hamburg ein – dem Clipper-BoardingHouse im Holzhafen.
clipper-boardinghouses.de/hamburg-holzhafen/
Ein geräumiges Appartement, in dem sich auch Fellnase Paula labrador-retriever-wohlfühlt – unsere Home- & Workbase während der nächsten 72 Stunden.

„Besucher:innen finden Hefte, die ihnen in ihrer Filterblase vielleicht sonst nie begegnet wären und treffen die Menschen hinter den Magazinen – das verbindet!“
Am Fenster stehend, seitlicher Blick auf die Elbe und den „Schellfischposten“ – ihr wisst schon, dort wo der Late-Night-Talk „Ina’s Nacht“ abgedreht wird … klar was folgen wird …
Wer dort einkehrt wird wahrscheinlich nicht auf die Haupt-Protagonistin Ina Müller treffen – mit ziemlicher Sicherheit aber auf die gleichnamige Eigentümerin Ulla Müller. Diese hatte unserer Paula mal zu später Stunde erlaubt auf der Eckbank Platz zu nehmen. Logisch, dass wir uns dort zu einen Willkommensdrink in Form eines kühlen Astra niederließen.
www.wn.de/welt/kultur/fernsehen/ulla-muller-ist-die-chefin-vom-schellfischposten-1473303
Auf der traumhaften Dachterrasse gab es eine Bowl mit mitgebrachter, hausgemachter Asia-Style-Pasta (Reste vom Dinner mit Freunden vom Vortag). Das Entkorken eines mallorquinischen Weißweines, einem Nounat von Binigrau, mag möglicherweise ein wenig schräg anmuten. Aber, wenn wir schon in Hamburg „dem Tor zur Welt“ zu Gast sind, darf sich der Kulturen-Mix auch auf Teller und im Glas spiegeln, genauso wie die Sonne, die es an diesem Nachmittag extrem gut mit den regenverwöhnten Hamburgern und uns meinte.
Gegen Abend setzten wir zum Kietz-Bummel an. Startend mit einem Moscow-Mule am Strand Pauli mit Panoramablick auf den Hafen. Gefolgt von einem
Flaschen-Astra im Elbschlosskeller – der härtesten Kneipe Hamburgs. Jeden Tag 24 Stunden geöffnet. Dieses 168-Stunden-Angebot scheinen einige der Menschen, die wir als mögliche Stammgäste ausgemacht hatten, maximal auszureizen. Gesichter in Gemäuern, die Geschichten erzählen – würdig sie zu skizzieren. Doch ihr Notizbuch und Stift zu zücken wäre gleichsam unschlau, wie nach einem guten Châteauneuf du Pape zu fragen 🙂
Eine von uns mitgehörte Ansage des 37-jährigen Betreibers Daniel Schmidt, an zwei seiner Spelunken-Angestellten lässt ahnen, dass hier nicht lange gefackelt wird und das Hausverbote eher hart als herzlich kommuniziert werden.
Trotzdem fühlen wir uns nicht unwohl. Der Elbschlosskeller ist sicherlich kein Szenetreff angehender Nobelpreisträger. Er ist aber auf jeden Fall einen Besuch wert, wenn man Menschen mag mit all ihren Geschichten und Facetten, was übrigens auf viele Kneipen und Etablissements des sogenannten „Hamburger Bergs“ zutrifft.
hamburgtourist.info/hamburger-berg
Wir schalten einen Gang in der Härteskala zurück. Zeit für ein Weinchen vor Rosi’s Bar. Da sitzt sie am Nebentisch, die 81-jährige Kiez-Kultwirtin Rosi Sheridan McGinnity, die Ex-Frau von Beatles-Entdecker Tony Sheridan. Während wir viel zu sauren Wein aus viel zu kleinen Gläsern schlürfen, nähert sich jemand, der Anlass für die Erfindung des Spruches „Mit dem ist nicht gut Kirschen essen“ gewesen sein könnte. Sein mit leichter Verbeugung vorgetragenes „Guten Abend Frau Rosi“, an die Lady am Nebentisch lässt erahnen, dass Anstand und Respekt unter den Kiez-Urgesteinen keine Floskeln sind.


„Der Savage Club – Hamburgs Wildestes Musikzimmer“ – so der Titel für das Szenario dieses Abends. Zwölf begnadete Vollblutmusiker, die sonst mit Künstlern wie Jan Delay, Tim Bendzko, Mark Forster,
Johannes Oerding oder Stefan Gwildis unterwegs sind. Ein jeder mit eigener Bühne. Diese bestand aus Perserteppich, antiker Wohnzimmerlampe, Mikros und Instrumenten.
Übrigenfalls (eines der Wörter, die es nicht gibt, die es aber geben sollte.) gestern habe ich unsere erste antike Stehlampe mit Fransen ersteigert. Der Verkäufer legt noch zwei kleine, passende Tischleuchter dazu. Alles Relikte aus dem Thalia-Theater in Wuppertal, wie er mir erzählte. Wir werden mit diesen Devotionalien vergangener Zeiten unser Souterrain aufhübschen, um das im Grünspan Erlebte zu bewahren.
Solltet ihr liebe Leserinnen und Leser über gut erhaltene, schöne Exponate zu humanen Preisvorstellungen verfügen, die bei euch Staub ansetzen oder im Weg rumstehen – meldet euch bei uns. Wir schauen gerne, ob wir den Dingen ein würdiges Umfeld bieten können.
Samstag: Eppendorf, Oberhafen und Winterhude
Das verabredete, persönliche Treffen mit unserem Print-Freund Achim Wittrin von der Kleinen Letternpresse in Eppendorf (www.moinmein.hamburg/werkstatt) mussten wir spontan vertagen.
Nicht aber den Besuch in diesem Kleinod Gutenbergischer Druckkunst. Achims liebe Nachbarin Mariola, hatte uns aufgeschlossen. Und so konnten wir die von Achim zurecht gestellte, alte Buchpresse in unser Auto wuchten, die nun zusammen mit einigen von Achims gedruckten Plakaten unsere Verlagsräumlichkeiten bereichern.


Gegen 11.00 Uhr ging es dann zum Kernziel unseres Trips. Zur IndieCon in Hammerbrooklyn, einem Ort der lt. seiner Webseite wie folgt beschrieben wird: Das Wort steht für die alte Welt und die neue zugleich, Hamburg, New York, verbunden mit einem Gefühl von Aufbruch, Hoffnung, Zeitenwende. Es könnte das ambitionierte Großprojekt zwischen Deichtorhallen und Großmarkt nicht besser beschreiben. An diesem Ort wird nicht bloß fantasiert, sondern angepackt und umgesetzt. Vorbei an der Oberhafen-Kantine, die einen ähnlichen Neigungswinkel wie der schiefe Turm von Pisa zu haben scheint, checkten wir in das EPI-Zentrum der Independent-Magazine ein.
Wir ließen uns fallen in die bunte, facettenreiche Welt aus Formaten, Haptik,
Inhalten uns bislang unbekannter Magazine. Wir begegneten deren Macher-
innen und Macher, ihren unterschiedlichsten Motiven für ihre Magazin-
Projekte und ihren Stories. Wir hatten zwar nicht unbedingt erwartet, Friede

Springer oder Hubert Burda dort zu treffen, dennoch überraschte uns das durchweg eher junge Alter von Anbietern und Besuchern. Ein weiterer Beleg für die Relevanz von analogen Produkten in dieser digitalen Welt. Erstaunlich für uns, dass es vornehmlich die jüngere Generation zu sein scheint, die das erkennt und lebt. Wie sonst lässt es sich erklären, dass uns wenig Ähnlichalte, dort begegnet sind?
Apropos Begegnungen. Wir lernten Choni Flöther kennen – Redakteurin, Journalistin für das beste (und einzige) deutschsprachige „Rollschumagazin.“ Von der Passion zum Magazin, welches sich in der bizarren C-Phase eine eigene FanBase erschaffen hat.
Für uns ein Beleg, dass offensichtliche Nischenprodukte nur das Ergebnis unserereigenen Limitierung sind. Einfacher: „Es gibt nichts, was es nicht gibt.“
Die in Berlin lebende Ceran Saner gewährte uns mit „Inside the Ring“ wortwörtlich tiefe Einblicke in ihr Leben und ihre Kämpfe in dieser Großstadt – analog zu einem Boxring, wie sie uns erklärte.
Wir wurden inspiriert von dem großformatigen „Schöner wärs“ von Christian Reister & Christoph Schieder, die ihren unterschiedlichen Foto-Passionen in diesem Magazin zusammenführten. Große schwarz/weiß-Aufnahmen … unterbrochen von Kleinformatigen Colour-Fotos. Ein echt spannender Mis.
Für mich als MindMapper verblüffend, wie Moses März ein Magazin designte, was vornehmlich aus handskizzierten DIN A2-Maps bestand – seinen „Karten zur Kreolisierung der Welt.“
Mit dem Journalisten und Chefredakteur Olaf Tarmas tranken wir Tee an seinem kleinen Messestand. Seine Passion für dieses Getränk, nebst der Erkenntnis das es bislang kein Magazin gab, welches sich diesem Thema annahm, war die Geburtsstunde für „t“ – das Magazin für Teekultur.
Den größten Wow-Effekt hatten wir am Stand von Thorsten Keller und seiner Selektion von „Coffee-Table-Mags“ – einem Shop, der sich auf den Verlauf von „amtlichen Magazinen“ spezialisiert hat. Genau unser Ding – diese Druckwerke, die man in Reichweite zum Lieblings-Schmöker-Ort drapiert, um mit einem Cappuccino oder einem Glas Wein darin einzutauchen. Haptische Erlebnisse, wo man ein schlechtes Gewissen bekommt, diese zu entsorgen. Das ist der Anspruch, den wir an unsere Magazine haben.
Logisch, dass das „BikePacking-Journal“aus Thorstens Bestand in Kirstens Handtasche wanderte, um uns für unser viertes Magazin-Projekt, welches sich um das Thema „Bike“ und unsere Region dreht, zu inspirieren. Mit uns traten die Magazine „Fool“ und „Seed“ den Rückweg an, die sich ebenfalls durch ihre Art abhoben.
Reich beschenkt durch Begegnungen mit tollen Menschen, Impulsen, Inspirationen suchten wir gegen 14.00 Uhr das Hobenköök im Oberhafen auf. Ein stylisches Restaurant mit einer großen Markthalle. Ihr könnt vieles machen, wenn ihr in Hamburg seid, aber bitte … diesen Ort solltet ihr aufsuchen, wenn ihr ehrliche, schnörkellose Küche mögt.
Wir wählten die Kalbsfrikadelle mit Kartoffel-Gurken-Salat und Ofengemüse. Einfach der Hammer! Der Silvaner, der uns von einer hier nicht erwarteten Sommeliere, angepriesen und eingeschenkt wurde, war das Tüpfelchen auf dem i.
In unserem Appartement folgte der Check unserer Magazin-Ausbeute, nebst Sichtung und Sicherung unserer Erkenntnisse. Ein wenig Siesta und ein Sundowner auf der Dachterrasse. Alles so herrlich unkompliziert im Boarding-House … hier ist Selbst-Service keine unerwünschte Haltung, sondern Teil der Philosophie.
Im Vorfeld hatten wir den Veranstaltungskalender von Hamburg gerastert. Am Samstag war dort die „Lange Nacht der Literatur“ ausgerufen, mit diversen Veranstaltungen an diversen Orten.


Angefixt wurde ich auf einen „Diary-Slam“ in Winterhude, einem Format, wo unbekannte Autoren dem Publikum längst vergangene Erlebnisse aus ihren Jugend-Tagebüchern vorlesen. Als regelmäßiger Schreiber von „Morgenseiten“, quasi eine Pflichtveranstaltung für mich – nicht für Kirsten und Paula, die währenddessen um die Außenalster spazierten. Kurzum, die ca. 50 Zuhörerinnen und Zuhörer im Goldbekhaus und ich kamen auf ihre Kosten. Zu köstlich die Gedanken von damals pubertierenden, heranwachsenden Menschen mit all den gedanklichen Karussellfahrten um die erste Freundin, den ersten Freund, den ersten Kuss … und wie peinlich man seine Eltern damals fand.
An die Literaturkreisenden unter Euch … gibt es ein solches Format in Bocholt oder Umgebung? Es wäre es wert – wenn es genügend Menschen gäbe, die bereit wären, ihre Tagebücher zu entstauben.
Sonntag: Außenalster
Ein Abenteuer stand an. Wir hatten es während der letzten zwei Jahre irgendwie nicht hinbekommen, unseren alten Alster-Kanadier zu Wasser zu lassen. Ein hundert Jahre alter Oldtimer fürs Wasser, gebaut aus Holzleisten, den wir im Jahre 2016 einem typischen Hamburger Jung abkaufen durften. Aber erst nachdem wir ihm versichert hatten, dass wir dieses gute Stück als anfassbaren Grund bräuchten, um immer wieder Hamburg zu besuchen. Gegen 14.45 Uhr hieß es „Leinen los“ an der Bootshalle, wo dieses Juwel eingelagert ist:
Vorbei an verwunschenen Gärten, pompösen Villen paddelten wir mit dem Kanadier zwei Stunden durch das Hinterland der Außenalster. Einblicke in ein traumhaftes Gebiet, welches einem auf normalen Wegen verschlossen bleibt. Unser Schmuckstück hat seine Dichtigkeits-Prüfung mit Bravur bestanden und uns das Versprechen abgerungen, dass wir ihm bei der nächsten Ausfahrt eine amtliche Flagge und einen ordentlichen Namen verpassen werden.
Am Abend wollten wir in einem echten Hingucker-Restaurant mit Wohnzimmer-Flair einkehren, welches wir am Freitag auf dem Kiez entdeckt hatten. Leider klaffte zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Konzeptes eine schier unüberwindbare Brücke, die uns nach einem der teuersten Glas Weine in unserem Leben in die Arme einer anständigen Pizzeria trieb. Man kann alles mit schwierigen Zeiten, Personalmangel etc. entschuldigen – man muss es aber nicht.
Apropos schwierige Zeiten. Wir hatten unlängst einen Talk mit Dominik Bloh im Kölner Treff wahrgenommen. Einem ehemaligen Obdachlosen, der ein Buch über sein Leben auf der Straße geschrieben hat: „Unter Palmen aus Stahl: Die Geschichte eines Straßenjungen.“ Dominik berichtete von der Sehnsucht nach Menschlichkeit, die Menschen ohne Dach über dem Kopf umschleicht. Es sei nicht immer der erbettelte Euro, der helfen würde.
Oftmals wären es die schlichten, menschlichen Gesten, die diese Menschen fühlen lassen, dass sie wahrgenommen werden.
Diese bewegenden Erkenntnisse drängten sich uns auf, als wir unseren größten Hunger an den opulenten Pizzen gestillt hatten. Zwei sauberzerteilte Hälften wanderten in die Take-Away-Schachtel und mit uns in Richtung Reeperbahn. Die Frage: „Können wir euch mit dieser Pizza etwas Gutes tun?“, traf auf sehr dankbare Augen, von drei
jungen Menschen. Menschen, wo wir nicht wissen, ob „auf-der Straße-leben“ eine bewusste Lebensentscheidung ist oder Schicksal?
Montag: Langenhorn & Rückreise
Vor unserer Heimreise stand ein letzter Termin an. Mit Zden Pospisil von der Letterpress Manufaktur Hamburg, haben wir uns über die Haptik und Aufmachung
von „amtlichen Visitenkarten“ ausgetauscht – so wie sie dort noch auf historischen Heidelberger Druckmaschinen, unter anderem auf dem Tiegel oder sogar noch auf der Boston-Handtiegelpresse hergestellt werden.
Fazit: Eine rundherum gelungene Auszeit, mit einer hohen Erlebnisdichte und vielen Impressionen, die haften bleiben und uns inspiriert haben. Vielleicht ist für die eine oder den anderen von euch etwas dabei …



