Interview: Roland Buß // Fotos: Kirsten Buss
Eine Stimme, wie die Fassstärke eines Whisky

Prolog
„Starke Stimmen“ … wäre meine Antwort auf die Frage, welche Musik ich mag. Von Pavarotti, über Sinéad O’Connor bis Leonard Cohen – um anzudeuten was ich meine. Stimmen, die so einzigartig sind, dass sie sich wie ein Fingerabdruck in den Gehörgang legen.
So geschah es mir mit der Stimme von Ralf Rademacher, die ich am 8. April diesen Jahres zum ersten Mal hörte. Mein alter Schulfreund Michael Raab hatte zum Rum-Tasting ins Filetgran eingeladen. Rum ein tolles Thema, Michael ein toller Typ – eine Kombi, die wir euch in der nächsten PAN-Ausgabe vorstellen. Manu Eimers war aus dem Frankenland angereist, um unser Mikro-Klassentreffen zu bereichern. Und so saßen wir da, um Rum-Stories aufzusaugen und alte Erinnerungen zu teilen – bis der „Wellermann“ in unser Ohr drang. Ihr kennt diesen Ohrwurm-Shanty, dank des schottischen Postboten Nathan Evans.
Nathan hatte dieses alte Seemannslied gecovert. Das Video wurde acht
Millionen mal innerhalb einer Woche angeklickt. Seinen Job als Postbote
tauschte er mitlerweile gegen einen Plattenvertrag beim Label Polydor.
Zurück zum Abend, zum Wellermann, zur Stimme, die mir die Härchen meiner Arme durchs Leinenhemd trieb, angestachelt von der Gänsehaut die sich einstellt.
Beim anschließenden „Zug durch die Gemeinde“ mit einigen Stationen auf der Ravardistraße, lernte ich den Stimmbandbesitzer Ralf Rademacher ein wenig kennen. Gut genug, um ihn als Special-Guest zu einem Team-Event dazu zu laden. Passend zur Zeile des besagten Songs „Soon may the Wellerman come to bring us sugar and tea and rum“ servierten wir Pralines (für den Zucker) und Zuckerrohr-Destillat (Rum) – Tea wollte zu dieser fortgeschrittenen Stunde keiner mehr. Was aber alle wollten, war eine Antwort auf die Frage, wo Ralf sich all die Jahre versteckt hatte? – wenige kannten ihn als Bocholter – keiner kannte ihn als Musiker mit seiner begnadeten Stimme.
Freitag, 14. Mai 2022, 15:00 Uhr
Portwein-Lounge / „Unser Nest“
(unser Zuhause) oberhalb des MÜ12 Verlages
Ralf drückt mir die Hand zur Begrüßung, begleitet von einem markdurchdringenden „Hallo“! Hände- und Schalldruck seiner Stimme drehen ähnliche Dezibel. Wir hockten uns an unsere Teak-Tafel zum Interview.
Fakten zur Person / Baujahr 1970 / verheiratet mit Marion / Vater von Stefanie (25), Max (23) und Ben (16) / beschäftigt bei Novoferm in Isselburg
Musikalische Vita / jahrelang im Keller / vereinzelt Ständchen bringen / eigene Anzeige in der Tageszeitung „Ich singe gerne“ / danach Anfragen diverser Kirchen-Chöre / seit 2011 bei Singing Voices Rhede / seit 2016 Solos im Rahmen dieses Chor-Projektes / 2018 Auftritt beim Musikabend von Jo Bucher mit Michaela & Joachim Weinholz (fiftyfifties), mit dem Song „The House of the Rising Sun“ / 2019 erster Auftritt beim Live & Hautnah Foyerabend in der Alten Molkerei / seit der Zeit Folgeauftritte beim Irischen Abend in Rhede, Stadtmarketing Vreden, Glühweinabende / St. Patricksday (Fasskeller) / Rum-Tastings etc.
Wann bist du dir der Einzigartigkeit deiner Stimme bewusst geworden?
Meinen Stimmbruch hatte ich mit 10-11 Jahren – danach war ich schon etwas tiefer unterwegs als meine Klassenkameraden. So richtig bewusst geworden ist mir das vor ca. 20 Jahren.
Dann hat es aber noch eine Zeit gedauert, bist du deine Stimme mit anderen geteilt hast …
Ja, mir ist immer ziemlich die Düse gegangen, wenn ich bei Singing Voices, aus der Mitte des Chores heraus, einzelne Solo-Passagen gesungen habe. Dagegen wollte ich etwas tun und so bin ich jeden Abend mit meiner Gitarre in den Keller gegangen und habe geübt. Bei meinem ersten größeren Aufritt – 100 Personen in der „Molke“ (Alte Molkerei) – habe ich plötzlich festgestellt, dass meine Aufregung weg war. Ich war vollkommen bei mir und das Feedback der Menschen war Balsam für meine Seele.
Apropos Balsam, ist Whisky ein guter Schmierstoff für eine solche Reibeisenstimme?
Nö. Whisky ist für mich eine weitere Passion, aber keine Notwendigkeit für den Klang meiner Stimme.
Gab es irgendwann eine Gelegenheit, wo du mehr Profit aus deiner Stimme hättest machen können?
Ja, die gab es. Eine Johnny-Cash-Tribute-Band ist vor einigen Jahren auf mich aufmerksam geworden. Bei dessen Song „Hurt“ waren wir uns einig. Ich müsste innerhalb kürzester Zeit mein Repertoire auf 50-60 Cash-Stücke aufbohren, um konzertfähig zu sein. Letztendlich habe ich festgestellt, dass der Weg schnell konzerttauglich zu werden, nicht meiner ist. Ich mag es, wenn sich die Dinge behutsam entwickeln.
In welcher Bühnenumgebung fühlst du dich am wohlsten?
Ich mag diese kleinen, intimen, wohnzimmerähnlichen Szenarien mit Menschen, die aufmerksam sind, die wirklich zuhören wollen. Dann weiß ich, dass die Balladen ihre Wirkung entfalten. Gerne auch mit meinen Kindern Stefanie und Max als Vocals auf der Bühne. Ich finde es auch toll, wenn der Funke überspringt und die Menschen mitsingen.
Was sind denn so klassische Mitsingsongs in deinem Repertoire?
Wenn ich z.B. „Johnny Walker“ von Westernhagen oder „Über den Wolken“ von Reinhard May anstimme, bleibe ich selten gesanglich alleine. Bei „Het is een nacht“ von Guus Meeuwis geht es dann so richtig ab.
Wieviel Stücke umfasst dein Repertoire?
Mittlerweile ca. 400
In welchem Genre?
Am wohlsten fühle ich mich im Irish Folk und bei den Songs von Johnny Cash.
Wenn du uns nur ein Stück vorspielen könntest, welches wäre das?
„Hurt“ von Johnny Cash.
Weitere Lieblingsstücke von ihm …
Natürlich „Ring of Fire“, „Highway Man“ und „Man in Black“ – ein sehr persönlicher Song von ihm, das ist Storytelling pur.
Bei der Vorbereitung auf dieses Interview und Ralfs Leidenschaft für Irish Folk hatte ich bilanziert, warum ich die Passion so gut nachvollziehen kann. Wie ist es möglich, dass ein Land mit nur fünf Millionen Einwohnern (ungefähr so viel Menschen, wie in Barcelona leben) so brillante Musiker hervorbringt wie: Sinéad O’Connor, The Corrs, Chris de Burgh, Enya, Rea Garvey, Bob Geldorf, Bono, Ronan Keating, Damian Rice, Glen Hansard (einer unserer Favoriten) und natürlich The Kelly Family … und allesamt mit „starken unverwechselbaren Stimmen?“
Ralf, dein Lieblingsstück aus dem Bereich Irish Folk?
„Ile of hope“ … dicht gefolgt von „Dirty old town“ von den Dubliners.
Apropos Dublin, du warst unlängst dort.
Ja, ein Freund hat mich auf dieses Land angefixt. Ich war aus dem Stand angetan vom Lebensstil der Iren, deren Pubs, dem Guiness und der Musik. Seitdem bin ich dem Land verfallen.
Eines meiner Lieblingsstücke von dir ist „Molly Malone“. Hast du sie in Dublin besucht?
Ja, aber ohne ihr an die Brüste zu fassen …
Die Legende von Molly Malone
Molly Malone war, so sagt man, eine junge Fischhändlerin und eines der schönsten Mädchen im Dublin des 17. Jahrhunderts. Damals herrschte große Armut und die arme Molly musste nicht nur Fische, sondern auch ihren Körper verkaufen. Aus dem Lied lernen wir, dass die schöne Molly Malone früh an Fieber stirbt. Im späten 20. Jahrhundert bildete sich die Legende um die historische Molly, die so zur tragischen Heldin wird. Ihr zu Ehren wurde 1988 ein Statue enthüllt. Schnell hieß es, wenn man der Statue an den Busen fasse, bringe das Glück. Diese Tradition wird bis heute gern gepflegt, wie man an den von vielen Händen glänzend polierten Brüsten erkennen kann.
Für mich ein weiteren Beweis, dass Ralf ein ganz anständiger und feiner Kerl ist.
Lass uns noch ein paar Worte zum Whisky verlieren. Welcher triggert dich?
Ich mag Whisky mit viel Charakter wie zum Beispiel die schottischen, torfigen Whisky von Laphroig, Talisker oder Caol Ila von der Insel Islay.
Gehen irische Whiskys für dich?
Klar, ich habe Tullamore besucht. Dort saß ich umringt von Fässern und Angels’share … eine 12 Jahre alte Fassstärke im Glas. Mehr geht kaum. Angels’share zu Deutsch etwa „Engelsanteil“ bzw. „Schluck der
Engel.“ So bezeichnet man den Anteil des Whiskys, der im Laufe seiner Lagerung aus dem Fass verdunstet.
Ich habe unlängst einen Verlags-Whisky für uns entdeckt …
… und der wäre?
Den „Writers Tears“ – Berühmte Schriftsteller wie Oscar Wilde oder James Joyce ließen sich bereits vom Whiskey inspirieren. So entstand die Geschichte, dass die Schriftsteller Tränen des Whiskeys beim Schreiben vergossen. Mit Hilfe des Whiskeys wurden Schreibblockaden überwunden und neue Ideen entstanden.
Wie passend.
Wieviel Gigs spielst du im Jahr?
Derzeit ca. 30
Wieviel möchtest du spielen?
Ich fände es gut, im Schnitt einmal pro
Woche zu spielen – gerne auch in der Woche.
Ich bin zwar kein Hellseher, aber das scheint mir realistisch 🙂

Epilog
Wir hatten uns auf Freitag, 3. Mai um 18:00 Uhr zum Foto-Shooting mit Ralf vereinbart. Eigentlich im Zusammenhang mit Michael Raab, dem wir ja das Kennenlernen von Ralf zu verdanken hatten. Eigens für diesen Abend hatte ich Story-Food zelebriert. Ein Chili nach dem Originalrezept von Johnny Cash & June Carter. Michael war wegen einer kleinen Verletzung im Gesicht nicht kameratauglich und musste schweren Herzens absagen. Kurzer Flexibilitätstest mit Caroline, Antje & Rudolf Schmeing, die zuvor zur Nachbesprechung ihrer Story im Mai-PAN, bei uns eingekehrt waren. Bravourös bestanden von allen Protagonisten. Ralf holte kurzerhand ein Mikrokabel von zu Hause, um sich an die Bose-Anlage in
unserem Meetingraum zu klemmen. Spätestens bei seiner Version von „Wonderful World“ bebten die Weingläser auf unserer Tafel. Im Sinne des Songs stiegen wir nach oben in „unser Nest“ um diesen Moment bei Chili, Wein und Whisky zu feiern. „Eins unserer besten Projektabschlussgespräche, ever“ wie Antje am nächsten Tag whatsappte.
Meine Dankes-Whats-App an Ralf hatte folgenden Zusatz: Zieh von deinen Tourdaten für dieses Jahr bitte zwei Auftritte ab. Betrachte dich bitte als gebucht für unser Verlags-Mittsommernachtsfest und für ein paar Sessions auf dem Wedding-Festival am 31.07. und 1.08.2022 im Schloss Raesfeld. Wäre schön wenn du der dortigen Junggesellen-
Abschieds-Lounge musikalisches Leben einhauchst.
Deal!
Wir freuen uns auf diese Acts und auf alles, was wir noch gemeinsam aushecken werden, inkl. Wohnzimmerkonzerte, Whisky-Blind-Tastings … und auf deine Interpretation von „The Old Triangle“, lieber Ralf
Glen Hansard & Friends : The Auld Triangle (HD) Live Royal Albert Hall 2014