Die Hochzeit der Bäche in Velen
Fotos: Kirsten Buß // Text: Roland Buß
Prolog
Sind wir, liebe Leserinnen und Leser, gedanklich gemeinsam unterwegs, wenn ich sage/schreibe, dass es sich grundsätzlich gut anfühlt, wenn einem ein Licht aufgeht – unabhängig davon, wer es angemacht hat?
Geschichte gehörte seinerzeit zu meinen Lieblingsfächern. Dennoch ist dieser durch unseren damaligen Lehrer Wolfgang Wabersky gepflanzte Keim niemals so richtig aufgegangen. Denn …
„Mehr als die Vergangenheit interessiert mich die Zukunft, denn in ihr gedenke ich zu leben“ … sagte schon Albert Einstein.
Eine Einstellung, der ich folgen kann – seinen mathematischen und physikalischen Kenntnissen eher nicht 😉
Dennoch habe ich lernen dürfen, dass man nie die Wurzeln vergessen und gelegentlich zurückblicken sollte. Eine solche Gelegenheit bot sich für uns in den Jahren 2022/2023. Damals im Zusammenhang mit der Konzeption unseres BikeMagazins DerRADius und mit seinen Kapiteln entlang der Aa. Mehr als fünf Jahrzehnte hatte es bis dato gedauert, bis wir deren Quelle in Velen als auch die Mündung unserer Hauptschlagader bei Ulft/NL aufgesucht haben.
Wirklich schöne, denkwürdige Momente … oder auch Learnings, wie man neu-englisch sagt ;-), die wir jeder Bocholterin,
jedem Bocholter und allen Anrainern ans Herz legen. Zumindest denen, die noch nicht dort waren. Man muss nicht wissen, wovon man singt, wenn man in das „Lied von der Aa“ einstimmt – es schadet aber auch nix. Das Mitsingen von „Griechischer Wein“ kommt mir auch geschmeidiger von den Stimmbändern, wenn ich diese mit eben solchem benässt habe 😉
Ein weiterer Blick zurück | KuBAaI-Walk mit Ulrich Paßlick | Weiteres Learning
Diesem Interview im Rahmen unserer Jubiläumsausgabe habe ich die nachfolgenden Textpassagen meines Gesprächspartners Ulrich Paßlick entliehen:
Unsere Stadt erwuchs aus einem Stück Land an einer Furt durch die Aa. Die Möglichkeit, diese dort auch bei schlechtem Wetter zu queren, ließ die ersten Menschen an dieser Stelle siedeln. Etwa 800 nach Christus wurde in dieser Siedlung die erste Kirche errichtet. Dort, wo später die Georgskirche erbaut wurde und sich das mittelalterliche Dorf weiterentwickelte – dem im Jahr 1222 die Stadtrechte verliehen wurden. Die Menschen haben sich seinerzeit ganz bewusst für dieses Stück Land und seine Lage entschieden – ohne die Aa gäbe es Bocholt nicht.
„OHNE DIE AA GÄBE ES BOCHOLT NICHT.“
Wenn man wie ich, als damals Außenstehender, den Blick auf die Stadt richtet, fällt einem auf, dass man in den letzten 150 Jahren nicht gut mit der Aa umgegangen ist. Das war zweifellos der Textilindustrie geschuldet, die sich dort angesiedelt hatte – das war um 1856 rum. Man konnte der Aa Produktionswasser entnehmen … zum Färben, zum Kühlen etc. Aber man nutzte sie auch zum Entsorgen – zu einem Zeitpunkt, als es noch keine Kanalisation gab.
Bei dieser Niederschrift schießt mir die zweite Strophe vom angesprochenen „Lied von der Aa“ in den Sinn:
Ich bin in Schanghai gewesen, in Kapstadt und auch am Ural,
doch nirgendwo war es noch schöner als in Bokelt an’ Drietkanal.
(Quelle: https://www.bocholt.de/soziales-und-bildung/museen-und-stadtgeschichte/stadtlexikon/a#toc-4)
in die Issel (Oude IJssel) in der Nähe von Ulft│Niederlande
Wir sind uns bewusst, dass es dünnes Eis sein kann, an Bocholter Kulturgütern zu rütteln … aber … großes ABER … hat unser fließender Puls es heute noch verdient, als Drietkanal besungen zu werden?
Spiegelt sich darin Wertschätzung, für dessen historische Bedeutung … für das Engagement der Menschen, die das Ruder herumgerissen haben? Steht das im Einklang mit der heutigen Realität?
Was mögen die Nicht-Bocholter von unserem Fluss … von uns denken?
Der PAN steht sicherlich nicht im Verdacht, der allgemeinen Empörungsgesellschaft anzugehören – aber gelegentlich juckt auch ihm der Finger, um den mal behutsam in eine Wunde zu legen 😉
Wie schaut’s, lieber Winnie, kann man das nicht sympathisch umtexten, kaschieren oder gar weglassen – hat ja bei unserer Nationalhymne auch geklappt 😉
Bocholt 1793/ Bild-Quelle: https://wiki.genealogy.net/Datei:Bocholt1793.jpg
Zurück zu den Worten vom Stadtbaurat a. D.:
Wir haben die Menschen durch das Gelände geführt. Ein Gebiet, das seit 150 Jahren von niemandem betreten werden konnte, außer den MitarbeiterInnen der Textilfabriken.
In diesem Tenor hatten wir auch die Aussagen von Udo Geidies verstanden, mit dem wir den angekündigten Foto-Wine-Walk im KuBAaI-Areal nachgeholt haben – nach dessen Pensionierung … deswegen auch der Wein beim Schlendern 😉 – zugleich als Dank für sein Engagement im Rahmen dieses spannenden Gebietes.
In diesem Zusammenhang sind wir zuvor auch eben ins LernWerk reingesprungen, um einen Schwung der aktuellen PAN-Ausgabe in einer weiteren, zukünftigen Auslagestelle zu deponieren.
Udo sagte sinngemäß, dass den Bürgern etwas zurückgegeben werde, was ihnen über 150 Jahre vorenthalten wurde.
KUBAAI | WURZELN – STATUS QUO – AUSBLICKE
Inside-Storys zum Kulturquartier Bocholter Aa und Industriestraße
https://archiv.pan-bocholt.de/2024/PAN06-2024/
„Den Bürgern wird etwas zurückgegeben, was ihnen 150 Jahre vorenthalten wurde.“
Dabei sollten wir nicht verkennen, welchen Anteil die Textilindustrie … die Arbeit unserer Ahnen … sprich Eltern, Großeltern, Urgroßeltern etc. … daran haben, wie sich Bocholt heute präsentieren darf. Vermutlich gibt es wenige Menschen unter unserer heimischen Leserschaft, deren Stammbaum frei von Verästelungen in die Textilgeschichte Bocholts sind.
Münsterstraße mit altem Arbeitsgericht │mit Blick auf die Schornsteine der Textilindustrie
Die Mission des PAN | Urvertrauen | Wertschätzendes Erkunden
(Appreciative Inquiry)
Wo wir gerade über Stammbäume schreiben … wir haben bislang keine direkte Linie zwischen unserer Symbolfigur PAN und der kleinen Figur im Langenbergpark … sprich dem Meckermann … ausfindig machen können 😉 Möglicherweise darin begründet, dass uns die Inschrift „Ick bün derteggen“ und die daraus entliehene Haltung so spanisch vorkommt – eine Sprache, die wir auch nicht verstehen. Sorry, Juan C. 😉
Ich schreibe das, weil vereinzelt Stimmen zu uns durchsickern, dass wir PANflöten die Dinge oftmals durch die rosarote Brille betrachten würden. Das ist auch so, dessen sind wir uns bewusst. Dagegen können wir uns gar nicht wehren, weil es unserer DNA entspricht.
Doch warum ist das so?
Ich darf schreiben, dass ich sehr behütet in Bocholt aufgewachsen bin – als Sohn eines gelernten Webers und einer Mutter, die auch in der Textilindustrie groß geworden ist.
Als pubertierender Jüngling habe ich im „schwarzen Park“, einem verbotenen, verwunschenen, geheimen Refugium neben dem heutigen Aasee, meine ersten Reno-Zigaretten gepafft, weil die so herrlich nach Menthol rochen. Ich bin mir sicher, dass meine Eltern darum wussten, dennoch durfte ich mich erproben … wie bei so vielem.
Heute weiß ich, welche Gabe es ist, so erzogen worden … aufgewachsenen zu sein – weil damit ein schwer erschütterliches Urvertrauen angelegt wurde – für das ich dankbar bin.
Ihr kennt das, dass man vornehmlich für Dinge empfänglich ist, die der eigenen Denkhaltung entsprechen. Gehirnsympathische Ansätze, die einen auf Spur halten – die einen bestätigen, auf dem richtigen Weg unterwegs zu sein – mit sich selbst im Reinen.
Vor etwa zwanzig Jahren durfte ich mich beruflich mit Team-, Führungskräfte- und Organisationsentwicklung beschäftigen.
Im Rahmen der Entwicklung eines Workshop-Designs bin ich auf die Methode Appreciative Inquiry gestoßen – zu Deutsch: wertschätzendes Erkunden.
Wikipedia sagt dazu: Appreciative lässt sich mit „anerkennend“, „würdigend“ und „wertschätzend“ übersetzen. Bei appreciative geht es um die Wertschätzung des Besten im
Menschen (als Partner, Kollege, Mitarbeiter etc.) oder in der Welt, um uns herum. Es geht um das Bejahen und Bestätigen von Stärken, Erfolgen und Potenzialen aus der
Vergangenheit und der Gegenwart sowie um das Aufspüren und Begreifen, welche belebenden Faktoren einem System (Team, Organisation, Kommune oder Netzwerk)
Energie, Excellence oder Vitalität geben. Diese Faktoren werden antizipiert und in der Zukunft verstärkt. Inquiry kommt von to inquire, was man mit „erkunden“ oder „untersuchen“ übersetzen kann. Es geht darum, gezielt Fragen zu stellen, um die Juwelen – das, was in den Teams oder der Organisation bereits gut funktioniert – zu entdecken. Darüber hinaus geht es darum, offen für Neues und bereit zu lernen zu sein.
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Appreciative_Inquiry
Ein Ansatz, der mich seitdem nicht mehr losgelassen hat – den die Begründer u. a. mit folgendem Bild veranschaulicht haben:
Man kann sich täglich in seinen Garten begeben … in die Hocke gehen und mühsam das aufkeimende Unkraut auszupfen. Man kann aber auch neue Bäume, Büsche, Stauden und Blumen pflanzen, bis das Unkraut keinen Raum mehr hat, sich zu entwickeln.
Was würdet ihr bevorzugen? Dieses Denken lässt sich auf viele Lebenssachverhalte übertragen – auch auf unsere Region.
LernWerk
Podiumsbrücke
mit Udo Geidies Projekt-Koordinator a.D.
PAN meets LernWerk
Wir sind privilegiert.
• Wir sind analog aufgewachsen.
• Wir durften eine Jahrtausendwende
miterleben.
• Wir dürfen zu den Pionieren der
Digitalisierung gehören.
• … und wir dürfen aus dieser Omnikrise
heraus eine neue Epoche mitgestalten –
wie wir jetzt wissen.
Und … jetzt kommt die Bonus-Passage für die Menschen in dieser Region:
• Wir dürfen neuerdings in einem Gebiet flanieren … dort leben … wohnen … das uns über 150 Jahre vorenthalten wurde.
Ein Rückblick aus der Vogelperspektive
Wie sah denn das Gebiet seinerzeit aus, das uns so lange vorenthalten wurde? Wenn ihr bei Google „Luftbilder + Bocholt“ eingebt, landet ihr wahrscheinlich auch auf den Seiten von Michael Deutz: www.luftbilder-bocholt.de
deutz produktionsstudios GmbH
Franzstraße 30 // D-46395 Bocholt
+49 28 71 25 19-0
kontakt@luftbilder-bocholt.de
Nach einem kurzen Austausch via Whats-App trafen wir uns am 13. August 2024, in unserem Meetingraum. Michael mit einem Stapel Ausdrucke unter dem Arm … ich mit einem kühlen Wasser und zwei Gläsern in der Hand – an diesem hochsommerlichen Tag.
Michael ist in der glücklichen Lage, auf einen stattlichen Fundus von historischen Luftbildern zurückgreifen zu können. Diesen hat er seinerzeit vom Fotografen Wolfgang Rösler übernommen, als er im Jahre 2010 dessen Firma an der Franzstraße übernommen hat. Kirstens alter Foto-Mentor hatte einen Teil dieses Fundes im Jahre 1963 aufkaufen können und bis in die 2000er-Jahre hinein fortentwickelt.
Kirsten erinnerte sich, dass Wolfgang seinerzeit die Bilder aus einem kleinen Flugzeug heraus geschossen hatte, dessen Tür durch eine Kette ersetzt worden war – um nicht herauszufallen, beim Fotografieren aus der Luft.
Quelle aller Historischen-Fluftbilder: deutz produktionsstudios GmbH
Westend
Hammersen│Werther Straße
Werther Straße
Beim gemeinsamen Erinnern mit Michael fokussierten wir uns auf den Bereich Aasee … die Aa entlang … bis zum Hammersen-Gelände – in dessen Hinterland einer der Protagonisten der Titelstory dieser Ausgabe die Vision des „Wohnen am Fluss“ realisiert hat. Dort entstand zum Millenium auf 35.000 m² die erste Feng-Shui-Siedlung Deutschlands.
Reichlich Schornsteine und Scheddachhallen, wie ihr auf den Bildern erkennen könnt – die Bedeutung der Textilindustrie für unsere Heimat bekommt klarere Konturen.
Wir bedanken uns bei Michael für die Überlassung der Fotos für diese PAN-Ausgabe.
Habt ihr mittlerweile ein Gefühl dafür, wie viel Fläche uns über 150 Jahre „vorenthalten“ wurde– um in diesem Wording zu bleiben – und wie sich dieses Gebiet zu unser aller Vorteil entwickelt hat? Ich sehe mich quasi auf dem Ast einer stattlichen Pappel sitzend, mich am Qualm der Reno verschluckend … mit Blick über Wiesen und Felder – dort, wo heute der Aasee zur Erholung einlädt.
Die Textilindustrie in Bocholt
Als bekennender Nicht-Historiker wuchs mit den Erinnerungen auch die Neugierde, wie viele Textilunternehmen seinerzeit in Bocholt beheimatet waren. Ob es eine diesbezügliche Karte im Netz zu finden gibt? Ich bin tatsächlich fündig geworden:
Verfasser/Autor:
Albrecht Liesmann mit den Hinweisen: Mit dem folgenden interaktiven Stadtplan möchten wir sie zu einem ausgedehnten Spaziergang oder zu einer Fahrradtour auf den Spuren der Textilindustrie einladen. Hinter den Wegpunkten verstecken sich viele Informationen.
Ein Ausflug in einen Abschnitt der Textilgeschichte der Stadt Bocholt. Es ist der Start einer interaktiven Lösung …
Basis für den interaktiven Stadtplan war der textilgeschichtliche Stadtplan von 2002 | Umgesetzt wurde er von M. Terwei, LWL Industriemuseum, Textilwerk Bocholt | Textilgeschichtlicher Stadtplan von 2002 (Dr. H.-J. Stenkamp, LWL Industriemuseum, TextilWerk Bocholt).
Offen blieb für uns die Frage, wie viele Unternehmen es in der Summe waren, die Bocholt als Textil-Hochburg ausmachten – bis zu dieser Veranstaltung des LWL-Museum Textilwerk | Weberei, Uhlandstraße 50, 46397 Bocholt:
Living History
Schauspielerische Führung macht Geschichte der Weberei lebendig
Am Sonntag (18.8.) können sich die Besucherinnen und Besucher des Textilwerks Bocholt auf eine Zeitreise begeben. Unter dem Motto „Living History“ bietet der Landschaftsverband Westfalen Lippe (LWL) Führungen in Form einer schauspielerischen Inszenierung an. Die Teilnehmenden folgen einem erfolgreichen Industriellen und einem arbeitssuchenden Tagelöhner durch den Betrieb. Vom Kontor über den Kesselraum bis in den Websaal können sie die beiden fiktiven Figuren durch ihren Alltag begleiten und werden dabei in eine Zeit zurückversetzt, in der die Webstühle noch auf Hochtouren liefen.
Münsterstraße 12/Zuhause des PANs
Merci an die Protagonisten für diese lebendigen Einblicke und die Antwort auf unsere Frage. Demnach gab es vor 100 Jahren 114 Textilunternehmen in Bocholt. Diese Führung nebst neuen Erkenntnissen haben uns inspiriert, uns noch weiter mit unseren Wurzeln auseinander zu setzen – das heißt, die Geschichte geht weiter.
Leben an der Aa versus Arbeiten an der Aa
Wir wissen jetzt, dass die Gebiete entlang der Aa für lange Zeit vornehmlich der Arbeit gewidmet waren. Mit unseren Storys über das Projekt ZWO, die 7Höfe, den Atrium-Garten in dieser Ausgabe und mit dem, was noch folgen wird, wollen wir auch daran erinnern, dass die Vision unserer Stadtplaner, das Engagement vieler Menschen und Unternehmen keine Lippenbekenntnisse waren. Hier wird echt abgeliefert.
Wohl dem, der sich ein Nest an unserer Hauptschlagader sichern konnte bzw. kann.
Wir begnügen uns bisweilen mit dem Flanieren, Verweilen und Genießen an der Aa und seiner Furt, wo alles seinen Anfang nahm. Und … wir setzen uns auch mit der Geschichte unseres Domizils Münsterstraße 12 auseinander – das … ihr ahnt es sicherlich … auch mit der Textilgeschichte Bocholts zu tun hat.