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Alternative Gedanken

Jul 29, 2024 | Geteilte Gedanken, Specials

Foto: Kirsten Buß // Text: Roland Buß

Der Rote Faden 

ZukunftsAngst | ZukunftsZuversicht | ZukunftsLust 

Der rote Faden 

16 Jahre ist es her, dass ich Rajvinder Singh begegnen durfte. Ein deutschsprachiger Autor und Stadtschreiber mit indischen Wurzeln – dem ich postum abermals Danke sage. Seine Gabe, scheinbar nicht zusammenhängendes mit einer spielerischen Leichtigkeit ex ärmelo zu einem „roten Faden“ zu denken und zu schreiben, hatte ich in der Form noch nie erlebt. Seitdem wandele ich gelegentlich auf den Spuren dieses Meisters der SchreibKunst – mich gerne an die gemeinsame Zeit während einer Schreibwerkstatt in Trier erinnernd.  

 „Schreiben ist Denken mit der Hand setzen.“ Pan Januar 2023 – Seite 18: https://archiv.pan-bocholt.de/2023/PAN01-2023/

Wusstet ihr, dass der Begriff des „roten Fadens“ wahrscheinlich der Seefahrt entnommen wurde? Demnach solle es häufig vorgekommen sein, dass Seile und Taue von den Schiffen geklaut wurden. Ab dem 18. Jahrhundert haben deshalb die Engländer in die Seile der englischen Marine einen roten Faden eingearbeitet. Dieser Faden zog sich vom Anfang bis zum Ende der Seile durch. Man konnte ihn nicht entfernen, ohne das Tau kaputtzumachen. Am roten Faden konnte man gut erkennen, wem das Seil gehörte. Der rote Faden war ursprünglich ein Schutz gegen Diebstahl. 

Heutzutage ist es möglich, diesen roten Faden von einer künstlichen Intelligenz in eine Story einspinnen zu lassen. Eine Versuchung, der ich gerne widerstehe, wenn es darum geht, meine Gedanken aufs Papier bzw. in die Tastatur fließen zu lassen. Das wahre, authentische Leben findet jenseits von ChatGTP und Co. statt. Dafür braucht es im Grunde genommen nur eine Portion Wachsamkeit und den Trotz, nicht alles den Maschinen zu überlassen – vor allem nicht das Denken.  

Nicht in jeder der bisher erschienenen 298 PAN-Ausgaben dürfte ein roter Faden erkenn-/erlesbar sein. Dennoch ist er vorhanden – zumindest in unserem StoryBoard, das wir zu jeder Ausgabe erstellen und über alle Ausgaben hinweg fortschreiben. 

In der Ausgabe, die ihr jetzt in den Händen haltet, war ich selbst überrascht, wie sich der „Rote Faden“ quasi von selbst eingesponnen hat – durch unsere jeweiligen Story-Partner:  

Flender Wir wagen uns an morgen | Seite 32

Wiegrink Gut aufgestellt für die Zukunft | Seite 60

Thies Heute schon im Morgen arbeiten | Seite 74 

Deren kleinster gemeinsamer Nenner: Die Zuversicht, die Lust auf die Zukunft. Darum verwebten sich eigenen Gedanken vermengt mit externen Impulsen zu einem großen Puzzle mit einem positiven Blick auf die Zukunft. 

Die Bücherdiebin

– Making-of
– Andreas Noßmann

Die Bücherdiebin 

Beim Zusammenlegen dieses Puzzle blieb ein Teil für mich unauffindbar: 

Ich: Sag mal, hast Du das  „Jahrbuch der Zukunft 2024“  von Matthias Horx gesehen? 

Kirsten: Ich sehe das deutlich vor mir,  mit seinem Leineneinband.  Hast du schon unten im  Verlag nachgesehen?

Ich: Jepp, unten … als auch hier  oben … ich bin eigentlich nicht schlecht im Suchen 😉

Kirsten: Ich weiß. Du wirst es irgendwo liegen gelassen  haben. 

Ich: Schwer vorstellbar. Der Schinken hat 185 Euronen  gekostet – den lässt man(n) nicht irgendwo liegen. 

Einschub: Es ist eher selten, dass wir bei Büchern so hoch ins Regal greifen – genauso wie beim Wein.  Aber manche Dinge  sind es uns einfach wert – so wie  dieses neue Werk aus der Schmiede von Zukunfts- denkern mit und rund um Matthias Horx. Ein Mensch, dem ich gerne zuhöre – der uns mit seinen Gedanken ein Stück weit durch die  Pandemie begleitet hat: https://www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/

Während die Gemahlin mich unterstützt und eine Durchsuchungsaktion in unseren Regalen und Stapeln von Druckwerken startet, nehme ich Kontakt mit möglichen Liegenlass-Plätzen auf – den außerhäusigen Lieblings-Denk- und Schreiborten. Sebastian Kremer, der Inhaber der Genusswelten des Bahia, und unser Freund Christoph vom Röderhaus in Goedereede vermelden Fehlanzeige – genau wie Kirsten.  

Beim morgendlichen Scrollen im digitalen Gesichtsbuch war ich über das neueste Werk unseres Künstlerfreundes Andreas Noßmann gestolpert: Die Bücherdiebin – nebst seiner
work-in-progress-Fotos. Kann das Zufall sein? Zumal Schwiegervater Hermann eine Selektion der Noßmannschen Werke am 01. September 2024 im Rahmen der City Art ausstellen wird? (Seite 24)

Den gleichnamigen Film aus dem Jahre 2014 haben wir mittlerweile geschaut – das besagte Buch bleibt nach wie vor verschollen. Doppelt tragisch, weil mittlerweile ausverkauft: 

Beyond 2024 – Das Jahrbuch für Zukunft
https://shop.thefutureproject.de/products/beyond-2024

Wir haben uns daran gewöhnt, dass der mystische PAN gelegentlich durch unsere Räumlichkeiten streift und sein Unwesen treibt, und sind gespannt, wo das Buch irgendwann auftaucht.

Noch ein Hinweis zum Film „Die Bücherdiebin“. Prädikat: SehensWERT – insbesondere wenn man ein Gefühl für das Leben und die Ängste unserer Ahnen zum Zeitpunkt des Nationalsozialismus entwickeln möchte. Ein Blick in die Vergangenheit als cineastisches Mahnmal für unsere Zukunft. 

Die Omnikrise – Durch Krisen Zukunft gestalten

Mit dem Erwerb des besagten Bandes bekam ich seinerzeit eine Einladung zu einem digitalen Future:Talk mit Matthias und seinem Sohn Tristan Horx.

Future:Talk Die Omnikrise
https://thefutureproject.de/content/die-omnikrise/#futuretalk-omnikrise

 

Meinen MerkWürdigen Extrakt nebst eigenen Interpretationen teile ich gerne: Demnach ist eine Omnikrise das Zusammenkommen verschiedener Krisen, die sich miteinander zu verstärken drohen. Ein Phänomen, mit dem wir gerade leben, das uns bisweilen fürchten lässt, dass unsere Welt auseinanderbröselt. 

Anders als beispielsweise der Finanzkrise in den Jahren 2008/2009 befinden wir uns seit Anfang des Jahres 2020 im Dauerkrisenmodus: Erscheinungen und Auswirkungen rund um Pandemien, Klimakrise, Krieg, Energiekrise, Globalisierung, Migrationskrise, Artensterben und Inflation vereinnahmen uns und lassen das Spiel unserer Gedanken selten ruhen. Verunsicherung breitet sich aus. Diese Kettenreaktionen verstärken sich durch das Unbehagen, wie der Einsatz künstlicher Intelligenzen uns und unser Leben verändern könnte. Ein Konglomerat von Phänomenen, was uns befremdet und was wir seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr erlebt haben. Verständliche Folge: Viele wirken dauererschöpft. 

In der Gesamtbetrachtung ein idealer Nährboden für Menschen, die das System in Frage stellen, um ihre eigenen Ideologien voranzutreiben. Unsere Demokratie scheint gefährdet – zumindest wenn Hasskultur und Populismus unwidersprochen hingenommen werden. 

Zur Demokratiekrise geselle sich die Wohlstandskrise in unserer Überdruss- und Überflussgesellschaft. Horx ziert seinen Freund Michael Lehofer: Wir haben von allem zu viel und vom Wichtigen zu wenig.  

In Bezug auf die KI ist er sich sicher, dass die genau so viele Dummheiten wie Klugheiten produzieren wird. Als eine der prägendsten Botschaften aus dem „verschollenen Buch“ hatte ich mir notiert: 

Eine These, die ich gedanklich mitgehe. Stellt man einer KI keine wohl durchdachte Frage oder füttert sie mit dem falschen Prompt (Aufforderung), darf man sich wundern, wie doof sie ist – ehrlicherweise … man(n) selber ;-). Der Umgang mit der KI wird uns nebenbei lehren, wie wir klarer und verständlicher kommunizieren. 

Die Anwendung von KI sei quasi ein Deja-Vu mit den Ereignissen zu Beginn der 90er – wo das Internet sehr viel Heil für das gesellschaftliche Wohl der Menschen versprochen habe. Was daraus geworden ist, verdeutlicht Matthais Horx anhand von einprägsamen Charts: Die ursprünglich schöne Struktur eines Netzwerkes erinnert heute eher an eine Art Krebsgeschwür. 

Omnikrisen habe es übrigens immer gegeben, bislang in Abständen zwischen 50 und 500 Jahren. Vereinfacht gesagt zeige dadurch das System sein Unwohlsein. Unüberhörbare Signale, dass sich etwas ändern muss, dass eine neue Epoche ansteht, in die es aufzubrechen gilt. Horx spricht von einem Next-Age, vor dem wir stehen, dem wir aber noch keinen Namen gegeben haben. 

Ich erinnere eine Aussage des YouTubers Jacob Beautemps, wonach wir uns auf dem Sprung seien … von der Wissensgesellschaft zu einer Gesellschaft des Verstehens. Ein mutmachendes Bild für die bevorstehende Epoche, wie ich finde. 

Notiz an mich selbst: Ich sollte das mit meinen Kolleginnen und Kollegen aus der Vortragsredner-Szene erörtern und den Extrakt hier im PAN teilen – insbesondere mit denen, die sich dem Thema Zukunft widmen. Ein Dialog mit Eric Händeler könnte den Anfang machen. 

Matthias Horx mahnt vor dem Phänomen, der „Self-fulfilling prophecy“ – der selbsterfüllenden Prophezeiung – die Wirklichkeit werden könnte, wenn Panik aufkommt und der überwiegende Teil der Menschheit sich von apokalyptischen Zukunftserwartungen infizieren lasse. 

Die Omnikrise sei eine Krise der Erzählungen, der Narrationen. Dieser kommunikative Akt – die Art und Weise, wie wir uns die Zukunft erzählen, sei in eine Sackgasse geraten. Zukunft beginne im Kopf. Deshalb sei es so wichtig, den Teil zwischen unseren Ohren zukunftsfähig zu machen – ihn als Future-Mind zu trainieren. 

Ein chinesisches Sprichwort laute: „Wohl dem, der in bewegten Zeiten lebt.“ 

… und der in der Lage ist, sich das bewusst zu machen schießt es mir in den Sinn. Während der Anfänge von Corona habe ich eine Runde mit meiner alten Rotwein-Fietze gedreht – am AaSee vorbei, durch die Hohenhorster Berge … in den Stadtwald, wo ich so oft als Kind mit meinen Eltern war. Das Hadern mit der Pandemie wurde leiser. Ein Gedanke schärfte sich aus: 

Wir sind privilegiert. 

Wir sind analog aufgewachsen.

Wir durften eine Jahrtausendwende miterleben.

Wir dürfen zu den Pionieren der Digitalisierung gehören. 

… und wir dürfen aus dieser Omnikrise heraus eine neue Epoche mitgestalten – wie wir jetzt wissen. 

Zurück zum Vortrag, bei dem Matthias Horx nach 38 Minuten seine Impulse beendet. Sohn Tristan greift einige Fragen aus dem vortragsbegleitenden Chat auf: 

Eine Zuschauerin fragt, inwieweit die Medien diese Weltuntergangsstimmung schüren. 

Man habe dies schon oft beim gemeinsamen Abendessen diskutiert. Gerade bei Talkshows sei erlebbar, dass es vornehmlich darum gehe, Probleme zu suchen und herauszustellen – es gehe um Erregung, und das Schüren von Ängsten. Leider sei es so, dass sich Weltuntergangsszenarien in unserer Aufmerksamkeitsökonomie besser verkaufen lassen. Alles, was negativ ist, was uns bedroht, werde 5-10mal mehr angeklickt, als Dinge, die gelingen. 

Jeder einzelne Journalist wolle das vielleicht gar nicht, aber in Zeiten, in denen vornehmlich scharf formulierte Schlagzeilen letztendlich Aufmerksamkeit, sprich Umsatz generieren, wäre es schwer, aus diesem Spiel auszusteigen.

Schwer – aber möglich … höre ich mich denken. 

Wir bräuchten eine neue mediale Kultur, sind sich beide einig – eine Rückbesinnung auf die Wortfamilie von medial bzw. Medium. Weg vom Angstmachendem, Extremisierendem, Spaltendem – hin zum Vermittelndem.  

Immer mehr Menschen würden sich aus den Massenmedien verabschieden, weil sie deren Zufilterungen von negativen Botschaften nicht mehr aushalten könnten. In Australien gäbe es mit Future Crunch eines der besten Portale, auf dem das Gelungene in unserer Welt dargestellt werde.

https://www.futurecrunch.com/

Man komme automatisch besser drauf, wenn man sich mit diesen Inhalten beschäftigen würde. 

Tristan liest eine weitere Frage aus dem Chat vor: Was kann man als Einzelner tun, um dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Die Antwort seines Vaters: Sich mit Menschen verbinden, die mit einem ähnlich konstruktiven Ansatz unterwegs sind. Wenn man merke, dass sein Gegenüber glaubt, dass alles den Bach runtergeht, könne man da nicht gegensteuern. 

Wohl war – einem Glas-Halb-Leer-Denker kann man mit Worten seinen Becher nicht voller quatschen – wer hat das jemals anderes erlebt? 

Wirkliche Veränderung findet dort statt, wo sich Menschen verbinden und ins Handeln kommen, statt sich in Ohnmachtserfahrungen zu weiden. Man müsse möglicherweise eine eigene Blase bilden.

Diese Schilderung ruft mir die Gutes-Holz-Theorie hervor, die ich Anfang der Jahrtausendwende mit einem Denkgefährten ersonnen und diskutiert habe. Analog zum Wein sollten wir uns mit „gutem Holz“ in Form von Menschen umgeben. Menschen mit Denkweisen, die uns gut tun, um in Ruhe zu reifen. 

Horx führt fort: Die Welt könne sich selbst stabilisieren. Auch wenn sie wohl nicht frei vom Bösen, vom Schrecklichen, vielleicht sogar von Kriegen sein könne – werde sie immer ein Stückchen besser werden. Darauf dürfen wir vertrauen, wenn wir uns den Verlauf der Geschichte anschauen und alle Daten aus Metastatistiken hinzuziehen. Die Bedingungen, in denen wir Menschen auf diesem Planeten leben, verändern sich immer zum Positiven – wenn auch nur in kleinen Schritten von bisweilen 0,5 Prozent im Jahr. 

Es gebe eine Sehnsucht nach Harmonie, die gestillt werden wolle. Die Zukunft ist und bleibt unscharf. Wichtig sei zu erkennen, dass es in unserer Macht steht, diese Zukunft zu
gestalten. Aus dem Wissen um die Vergangenheit dürfen wir die Zuversicht ziehen, die Zukunft konstruktiv zu gestalten – sie zum Gegenstand  unserer Erzählungen zu machen.  

Lesenswertes

Mehr Phantasie wagen | Michael Ende 

Wer wäre besser geeignet zum Thema Erzählungen als Michael Ende, der Autor der Unendlichen Geschichte, Momo etc.? Aus der nach seinem Tod erschienenen Skizzensammlung – dem Manifest für Mutige habe ich auszugsweise diese Passagen entliehen:

Das Erfinden neuer Bilder | Innenweltverwüstung

Die Erfindung neuen Bilder, an denen der Mensch sich orientieren kann, das ist nach meiner Ansicht gerade die Aufgabe des Schriftstellers, des Malers, des Bildhauers…, dass er Vorstellungen entwirft, in denen sich viele Menschen wiedererkennen. 

Er muss sich in die ganze Problematik seiner Zeit wirklich hineinstellen, sonst kann er aus den Lebensfragen seiner Gegenwart kein Menschenbild entwerfen. Das muss neu erfunden, neu geschaffen werden. Dazu reicht der alte Kulturvorrat nicht aus. 

Die Fragen, vor denen wir heute stehen, können wir nicht mehr aus einem Rückblick auf die Vergangenheit lösen. Wir müssen unsere Maßstäbe für ein Menschenbild eigentlich aus der Zukunft holen. Mit einer Art prophetischer Begabung müssen wir sie jetzt herein erfinden. Das bedeutet auch ein Neukonzipieren dessen, was der Mensch überhaupt sei und sein kann. Im menschlichen Leben auf dieser Welt gibt es nichts Ewig Gültiges.  

Ich denke, dass es wieder notwendig ist, Geschichten zu erzählen und das, was uns bewegt, in Form von Geschichten zu bringen. Wir müssen es wiederfinden, das Geschichtenerzählen. 

So wie man Bäume pflanzen kann, kann man auch Gedichte schreiben. Man schaut heute immer nur auf die Umweltzerstörung. Es gibt jedoch ein Phänomen, das viel weniger betrachtet wird, nämlich die Innenweltverwüstung, die genauso bedrohlich und gefährlich ist wie die Verwüstung der Umwelt. Und gegen diese Innenweltverwüstung kann man mit einem „inneren Bäumepflanzen“ anzugehen versuchen. Der Versuch, guteGedichte zu schreiben, ist ein innerer Baum, der da geplatzt wird.  

Auch einige Schriftsteller und Künstler versuchen etwas zu schaffen, was dann da ist und was gemeinsamer Besitz der Menschheit werden kann – einfach weil es gut ist, dass es da ist. 

Michael Ende starb im Jahre 1995 im Alter von 65 Jahren. Seine Geschichten leben fort. Eigentlich habe er sie nie für Kinder geschrieben, sondern zum Wachrütteln der Erwachsenen. 

Widmen wir uns im Folgenden einem Text, einem möglichen inneren Baum: 

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein … Es war im Jahre 2012, als der Reckoning-Song „One Day“ für uns zum ersten Mal ein Gesicht bekam – seinerzeit in einem unserer Lieblings-Talkformate „Inas Nacht“. Bislang nur im Radio wahrgenommen und als einzigartig in die Rubrik „Starke Stimmen“ einsortiert, war ich mir vollkommen sicher, dass dieser Song einer Frau zuzuordnen sei.

Herzzerreißende Töne, kratzende Klangfarben… voller Emotionen vorgetragen … zerbrechlich … mit Tönen jonglierend … intime musikalische Momente jenseits des Mainstreams. 

Zu unserer Überraschung gesungen von einem Mann. Der Eigner dieser bizarren Stimme ist Asaf Avidan, ein Folk-Rock-Musiker mit israelischen Wurzeln. 

Asaf Avidan Reckoning Song bei Inas Nacht
https://www.youtube.com/watch?v=UGCHmwpOUEM

Gleichsam faszinierend wie seine Stimme … der Text … nebst dem Refrain: 

„One day baby, we’ll be old.
Oh Baby, we’ll be old.
And think of all the stories, that we could have told.“

Ein halbes Jahr später… am 07. Mai 2013 war es die damals 21-jährige Poetry-Slammerin Julia Engelmann, mit ihrer Interpretation des Songtextes, die 1000 Zuschauer beim 5. Bielefelder Hörsaal-Slam in Ihren Bann zog. 

Wir haben Julias Text vollständig für euch transkribiert, weil er uns so passend erschien im Zusammenhang mit unserem roten Faden ZukunftsZuversicht: 

Okay, mein Text heißt „One day/Reckoning text“ und orientiert sich an einem Pop-Song, einem Remix, den ihr vielleicht kennt. Für alle, die ihn nicht kennen, und auch so singe ich die Zeile, auf die ich mich beziehen werde, noch mal vor.  

„One day, baby, we’ll be old, oh baby, we’ll be old, and think of all the stories that we could have told.“ 

[Langer Applaus.] Ach herrje, nein, nein, nein, nein, nein. So war das alles nicht geplant. 

Eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt sein und an all die Geschichten denken, die wir hätten erzählen können.  

Ich, ich bin der Meister der Streiche, wenns um Selbstbetrug geht.
Bin ein Kleinkind vom Feinsten, wenn ich vor Aufgaben steh.
Bin ein entschleunigtes Teilchen, kann auf Keinsten was reißen.
Lass mich begeistern für Leichtsinn, wenn ein anderer ihn lebt. 

Und ich denke zu viel nach. Ich warte zu viel ab.
Ich nehm mir zu viel vor und ich mach davon zu wenig.
Ich halt mich zu oft zurück, ich zweifel alles an.
Ich wäre gerne klug – allein das ist ziemlich dämlich. 

Ich würd gern so vieles sagen, aber bleibe meistens still,
weil, wenn ich das alles sagen würde, wäre das viel zu viel.
Ich würd gern so vieles tun, meine Liste ist so lang.
Aber ich werd eh nie alles schaffen – also fang ich gar nicht an. 

Stattdessen häng ich planlos vorm Smartphone,
wart bloß auf den nächsten Freitag.
„Ach, das mach ich später“, ist die Baseline meines Alltags.
Ich bin so furchtbar faul wie ein Kieselstein am Meeresgrund.
Ich bin so furchtbar faul, mein Patronus ist ein Schweinehund. 

Mein Leben ist ein Wartezimmer, niemand ruft mich auf.
Mein Dopamin, das spar ich immer, falls ichs noch mal brauch.
Und eines Tages, Baby, werd ich alt sein, oh Baby, werd ich alt sein und an all die Geschichten denken, die ich hätte erzählen können.  

Und du? Du murmelst jedes Jahr neu an Silvester
die wieder gleichen Vorsätze treu in dein Sektglas
und Ende Dezember stellst du fest, dass du Recht hast,
wenn du sagst, dass du sie dieses Jahr wieder vercheckt hast. 

Dabei sollte für dich 2013 das erste Jahr vom Rest
deines Lebens werden.
Du wolltest abnehmen, früher aufstehen,
öfter rausgehen, mal deine Träume angehen,
mal die Tagesschau sehen, für mehr Small Talk, Allgemeinwissen.
Aber so wie jedes Jahr, obwohl du nicht damit gerechnet hast,
kam dir wieder mal dieser Alltag dazwischen. 

Unser Leben ist ein Wartezimmer. Niemand ruft uns auf.
Unser Dopamin, das sparen wir immer,
falls wirs noch mal brauchen.

Und wir sind jung und haben viel Zeit.
Warum sollen wir was riskieren?
Wir wollen doch keine Fehler machen.
Wir wollen auch nichts verlieren.
Und uns bleibt so viel zu tun. Unsere Listen bleiben lang
und so geht Tag für Tag ganz still ins unbekannte Land.
Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby,
werden wir alt sein und an all die Geschichten denken,
die wir hätten erzählen können.  

Und die Geschichten, die wir dann stattdessen erzählen,
werden traurige Konjunktive sein wie:
Einmal bin ich fast einen Marathon gelaufen und
hätte fast die Buddenbrooks gelesen.
Und einmal wäre ich beinahe, bis die Wolken wieder lila waren, noch wach gewesen. 

Und fast, fast hätten wir uns mal demaskiert und gesehen,
wir sind die gleichen.
Und dann hätten wir uns fast gesagt, wie viel wir uns bedeuten.
Werden wir sagen.
Und dass wir bloß faul und feige waren –
das werden wir verschweigen
und uns heimlich wünschen, noch ein bisschen hierzubleiben.

Wenn wir dann alt sind und unsere Tage knapp –
und das wird sowieso passieren,
dann erst werden wir kapieren, wir hatten nie was zu verlieren.
Denn das Leben, das wir führen wollen – das können wir selber wählen.
Also lass uns doch Geschichten schreiben,
die wir später gern erzählen.
Lass uns nachts lange wach bleiben,
aufs höchste Hausdach der Stadt steigen,
lachend und vom Takt frei die allertollsten Lieder singen.
Lass uns Feste wie Konfetti schmeißen, sehen,
wie sie zu Boden reisen,
und die gefallenen Feste feiern, bis die Wolken wieder lila sind. 

Und, lass mal an uns selber glauben. Ist mir egal, ob das verrückt ist und wer genau guckt, sieht,
dass Mut bloß auch ein Anagramm von Glück ist.
Und, wer immer wir auch waren – lass mal werden,
wer wir sein wollen.
Wir haben schon viel zu lang gewartet.
Lass mal Dopamin vergeuden. 

„Der Sinn des Lebens ist leben“ – das hat schon Casper gesagt.
„Let’s make the most of the night“ – das hat schon Kesha gesagt.
Lass uns möglichst viele Fehler machen und möglichst viel aus ihnen lernen.
Lass uns jetzt schon Gutes säen, damit wir später Gutes ernten. 

Lass uns das alles tun, weil wir können und nicht müssen.
Weil, jetzt sind wir jung und lebendig und
das soll ruhig jeder wissen.
Und unsere Zeit, die geht vorbei – das wird sowieso passieren.
Und bis dahin sind wir frei, und es gibt nichts zu verlieren. 

Lass uns uns mal demaskieren und dann sehen,
wir sind die gleichen.
Und dann können wir uns ruhig sagen, dass wir uns viel bedeuten,
denn das Leben, das wir führen wollen, das können wir selber wählen.
Also los: Schreiben wir Geschichten,
die wir später gern erzählen.

Und eines Tages, Baby, werden wir alt sein, oh Baby, werden wir alt seinund an all die Geschichten denken, die für immer
unsere sind.

5. Bielefelder Hörsaal-Slam – Julia Engelmann – Campus TV 2013
https://www.youtube.com/watch?v=DoxqZWvt7g8

Hörenswertes

Asaf Avidan –  Nancy Jazz Pulsations – ARTE Concert 
https://www.arte.tv/de/videos/116567-004-A/asaf-avidan/

Mit mehr als 13 Millionen Aufrufen, gingen Ihre Botschaften viral. Elf Jahre ist das jetzt her, dass Julia uns den Spiegel vorhielt im Sinne von Carpe diem („Nutze den Tag“) – eine der wesentlichsten Botschaften aus dem Film „Der Club der toten Dichter.“ Reichlich Zeit, um Dopamin zu vergeuden – wach zu bleiben, bis die Wolken wieder lila waren etc. 

Während der zurückliegenden 4.093 Tage, seit Julias Premieren-Slam, gab es viele Momente, die wir für uns – im Sinne des Textes angenommen und umgesetzt haben. Film, Song und Text haben unser Denken und Leben beeinflusst – insbesondere die Passage: Schreiben wir Geschichten, die wir später gern erzählen. 

An dieser Stelle wollte ich ursprünglich die Geschichte erzählen, wie ich mich mit zwei bescheidenen Familienunternehmen in die Haare bekommen habe – dem FC Bayern und Sky Deutschland ;-). Das hole ich nach. 

Um auch hier das Positive herauszuziehen … dieser Zwist führte letztendlich zu einem Wiedersehen und -hören mit Asaf Avidan. Getreu dem Motto „Es muss nicht immer Kaviar sein“ feiern wir unsere Abnabelung vom Pay-TV gelegentlich mit tollen Konzerten auf Arte. 

Wenn ihr Sehnsucht nach einer Neuauflage des Ohrwurm-Songs „One Day“ verspürt – spult gerne bis zu 31:27 vor. Warum erzähle/schreibe ich das? Weil ich es als so befreiend empfunden habe, uns von Netflix und Co. loszusagen – das gewohnheitsmäßig eingeschliffene, uniformierte Konsummuster wie das Schauen der Tagesschau zu pulverisieren, um uns von Bad-News zu entlasten.  

Im Ergebnis: Ein reduzierter und bewussterer Umgang mit dem Berieselungsmedium Fernsehen. Einhergehend mit dem Gewinn von Quality-Time mit der Gemahlin und Eigenzeit fürs Lesen und Schreiben. 

Ich habe längst nicht alles erzählt, was der rote Faden hergegeben hat. Es wird einen Part II geben, inklusive der Sichtweisen von weiteren Zukunftsforschern, Buchbesprechungen wie „Rebel Mind“ etc.  

Schließen möchte ich diesen Teil der ZukunftsZuversicht mit einer kleinen, auszugsweisen Geschichte eines 91-jährigen Politik-Urgesteins.

Bernhard Vogel wendet sich an die heutige Generation | 3nach9

https://www.youtube.com/watch?v=22Pf7URgGwI

Das gibt Bernhard Vogel der nächsten Generation mit | Auszug aus  3nach9 – derselben Folge, wo auch Volker Busch (siehe thies-Story Seite 74 ) zu Gast war.  

Moderatorin Judith Rakers zu Bernard Vogel: „Sie sagen, wir haben das damals alles geschafft, in der Rückschau. Wir haben das hingekriegt. Und deswegen sind Sie auch zuversichtlich, dass die jetzigen Generationen auch die Probleme unserer Zeit lösen werden, denn sie haben es mit Ihrer Generation damals auch geschafft.“ 

Bernhard Vogel: „Wer das Jahr 1945 oder gar 46/47 erlebt hat, konnte nicht ahnen, dass dieselben Menschen auch noch erleben würden, dass Deutschland zu den wohlhabendsten Ländern der Welt gehören würde.  

Wir hatten die Hoffnung, einigermaßen wieder ein Dach über den Kopf zu kriegen. Diese Voraussetzung war der Grund, uns anzustrengen.  

Verstehen Sie, wir hätten ja damals mutlos alles liegen und stehen lassen können. Unsere Mütter, die Väter waren im Krieg gefallen oder in Gefangenschaft, unsere Mütter haben die Steine abgeklopft und haben dafür gesorgt, dass wenigstens wieder das Fenster eingesetzt werden konnte. Also die Schwierigkeit der Zeit war die Voraussetzung für den Mut, sie zu bestehen.  

Und weil ich diese Erfahrung mitbringe, geht es mir heute darum, so oft das nur möglich ist, zu sagen: Habt doch, die jetzt verantwortliche Generation, den Mut, mit den Schwierigkeiten von heute so fertig zu werden, wie wir mit den Schwierigkeiten von gestern fertig geworden sind. Stellt euch nicht mit herabhängenden Mundwinkeln an den Rand und beklagt die Schlechtigkeit der Zeiten, sondern engagiert euch und helft mit, dass wir die Schwierigkeiten von heute überwinden. Sie sind nicht größer als die von 1946.  

Sie sind wieder zu bewältigen, wenn genügend Leute anfassen. Und dann kommt natürlich hinzu … und da bin ich sehr, sehr erfreut und erstaunt über die Demonstrationen der letzten Monate für Demokratie und Freiheit. Das hätte ich uns Deutschen nicht in diesem Umfang zugetraut. Das ist ein gutes
Zeichen, dass die Demokratie in Deutschland nicht nur sagt, jeder kann auf seine Weise selig werden, sondern dass die Demokratie davon abhängt, dass es Demokraten gibt.“

 

Urteile ein jeder selbst, ob das die Worte eines „alten weißen Mannes“ sind, wie es gelegentlich despektierlich heißt, wenn ein betagter Mensch sich mitteilt. Oder ob sich darin die Lebensklugheit eines weisen Mannes spiegelt, dem man zuhören sollte, wenn er uns allen Mut zuspricht und zum Aufbruch ermuntert.  

Julia Engelmann hat uns erzählt, dass Mut bloß ein Anagramm von Glück ist. Von Volker Busch wissen wir, dass es Sinn machen könnte, den Begriff Glück hin und wieder mit dem Begriff Leistung zu vermählen.  

Wir danken den Inspirationen, der namentlich aufgeführten, sowie den Flenderanern und den Teams von Wiegrink und Thies für ihre Stories, die Mut machen auf die Zukunft – die Zukunftszuversicht versprühen. Was im Übrigen attraktiv und ansteckender ist,  lt. Matthais Horx, um auch diese Klammer zu schließen.  

Have a bright future
Ich wünsche dir eine glänzende Zukunft.
wie Pero Mićić enden würde … den wir euch noch vorstellen werden.

Part II im September 2024