Mo.-Fr., 8 – 17 Uhr

Viel Gutes beginnt  mit einer Frage

Jan. 29, 2025 | Portraits

Fotos: Anatol Kotte // Interview: Roland Buß

Titel: Rihanna New York, USA, 2006 

Wir schrieben das Jahr 2024 – den 17. Juni, um genau zu sein. Unter dem Motto „Wertschätzungs-Cappuccino mit langjährigen Print-Gefährten“ tauschten wir uns mit Thomas Klein-Bösing und Dirk Reichenberg, den beiden Geschäftsführern unseres Print-Partners D+L, aus. Anlass war die Jubiläumsausgabe des PAN, der seinen 25. Geburtstag feierte. 

Auf die Frage, was das ultimative Lieblingsmagazin der beiden sei, losgelöst natürlich vom PAN, holte Dirk einen druckfrischen SWAN aus seinem Büro. Ein Fine-Art-Bookazine, vornehmlich für ambitionierte Fotografen … in einem atemberaubenden Format und extrem wertiger Aufmachung. 

Eine Mischung aus spannenden Interviews berühmter und nicht ganz so berühmter Fotografen und hochwertigem Bildband – komplett in Schwarz-Weiß gehalten. 

Ich war schockverliebt. Noch am selben Tag abonnierte ich den Newsletter des SWAN und erwarb alle bislang erschienenen 19 Ausgaben. Wann immer sich eine MagTime bietet, begleitet mich seitdem eines dieser Magazine zu meinen Lieblings-Schmöker-Orten. Neben den Plätzen in der Münsterstraße 12 sind das vor allen Dingen die Saunalandschaft im Bahia, Imping – Das Café und das Huckleberry’s.. Inspiriert durch das Gelesene entdecke ich immer neue Techniken, Tools und Ideen, die mich tiefer in meine Passion Fotografie eintauchen lassen. 

 

Zeitsprung | 09. Oktober 2024 

Der an diesem Tag einflatternde Newsletter des SWAN enthielt den Hinweis:

Gastredakteurin gesucht

Wundervolles Feedback zum Interview von Peter Ortmann in Ausgabe 20 hat uns dazu bewogen, auch für die Ausgabe 21 wieder einen Gastredakteur zu suchen. Diesen haben wir bereits gefunden.

Nun suchen wir für Ausgabe 22 eine Gastredakteurin. Eine Dame, die sich mit dem SWAN Magazine identifiziert und sich vorstellen kann, einen Künstler oder eine Künstlerin zu interviewen …

Mein letzter Frisörbesuch lag ca. sechs Wochen zurück … sprich, ich stand kurz davor, mir Zöpfchen machen zu können ;-). Zudem hatten mir einige Persönlichkeitsanalysen in der Vergangenheit attestiert, dass ich eine sehr feminine Denke habe. 🙂 

Aus meiner Sicht sprach vieles dafür, mich durch den Aufruf angesprochen zu fühlen. Logische Konsequenz: eine unkomplizierte Bewerbung meinerseits, mit der Frage, ob sie auch mit mir vorliebnehmen würden.

Es folgten einige Zoom-Calls mit einem der Macher des SWAN – in Person von Thomas Fühser – nebst unserem persönlichen Kennenlernen auf der „Learn and Give“ in Detmold. Im Schatten des Herrmannsdenkmals kamen dort am 16. November 2024 ca. 120 Fotografen zusammen, um sich auszutauschen. Größtenteils aus Deutschland – die weiteste Anreise hatte eine Teilnehmerin aus Dubai. 

Nachdem klar war, dass SWAN und ich Lust hatten, zusammenzuarbeiten, ging es nur noch um die Frage einer geeigneten „Zielperson“ für meine Gastredakteur-Story im SWAN. Thomas Fühser hatte mir zwei potenzielle Kandidaten genannt – einer davon war Anatol Kotte. Nach den ersten Recherchen zu ihm war mir klar: der oder keiner ;-). Wir beide Jahrgang 1963, beide passionierte Defender-Fahrer … er in Hamburg lebend, wir uns in Hamburg zu Hause fühlend. Und eine aus Instagram herauszulesende Leidenschaft für gutes Essen und Wein. Kurzum … ein idealer Match – verstärkt durch Worte, Storys und Impressionen, die er mit den Teilnehmern des Events in Detmold teilte. 

Ein unkomplizierter, persönlicher Schnack im Anschluss und schon stand die Einladung in sein Hamburger Studio und die Zusage für ein Interview. 

Fazit: zwei harmlose Fragen am Anfang – am Ende eine Begegnung mit einem tollen Typen … und eine ziemlich coole Story für die 22. Ausgabe des SWAN, der voraussichtlich Mitte Februar 2025 erscheinen wird. 

Wolfgang Schäuble 

Berlin, Germany, 2011

Es folgen Ausschnitte aus einer fast sechsstündigen Interview-Session, nebst bekannten und weniger bekannten Fotos eines sympathischen Charakters mit vielen Facetten: 
Das komplette Interview findet ihr im SWAN.

Anatol Kotte

von Roland Buß  

Prolog

Anatol Kotte | Deutscher Fotograf | Eher Handwerker als Künstler – nach seinem Verständnis | Gastdozent an der Hochschule für Kommunikationsdesign/Stuttgart | Galerist | Nebendarsteller im Tatort | Ambitionierter Koch | Brunello-Freak | Biker  | Verheiratet mit Carolin Kotte | Vater eines Quartetts von Töchtern

Wir, also Gastautor Roland Buß nebst Gattin … dazu später mehr … sollten Anatol in seinem Studio in Hamburg treffen. „Grindelhof 29, Hinterhaus, rote Treppe“, so lautete es in seiner WhatsApp. Rechts ein Oldschool-Plattenladen, links ein ebenfalls in die Jahre gekommener weißer Defender, mit dem verräterischen Kennzeichenfragment „AK“.

Gespannt, ob es neben dem Geburtsjahr und der Passion für betagte Land Rover weitere Gemeinsamkeiten gibt, ging es die etwas abgeratzten, bourdeauxfarbenen Betonstufen hoch. „Mein Studio ist ein ganz wichtiger Raum für mich“, stand in unserer digitalen Kommunikation zu lesen. Einer herzlich-unkomplizierten Begrüßung folgten ein entspanntes Schlendern durch die Räumlichkeiten und die Frage, wo wir uns niederlassen wollen, für die auf zwei Stunden taxierte Interview-Session. 

Großzügige Räumlichkeiten, authentischer Loftstyle … mindestens vier geeignete Orte auf gefühlten 270 Quadratmetern drängten sich auf: Ein Gespräch am Küchenblock? … In einer gemütlichen Lounge-Ecke? … Inmitten eines Arrangements von gerahmten Fotos für eine bevorstehende Ausstellung in München? … Oder in einem Raum im Raum, mit ausladendem Hightable? Neben dem Oldschool-Schreibpult war es die Melange aus gerahmten Fotos, Büchern, einem Plattenspieler mit reichlich Vinyl an seiner Seite, die diesen Ort noch magischer wirken ließ als das ohnehin schon inspirierende Studio. Eine in sich geschlossene Showroom mit vielen Durchblicken ins Studio und in den Hof. Wenig verwunderlich, dass diese Location unlängst für die Dreharbeiten eines Hamburger Tatortes angemietet wurde – mit Anatol Kotte als Nebendarsteller, worauf wir noch zu schreiben kommen. 

Du hattest die Bedeutung dieses Studios für Dich anklingen lassen. Die kann man ahnen, spüren. Wie würdest Du das einem Menschen beschreiben, der noch nie hier war? 

Für mich ist das ein Platz, wo meine Ideen nur so fließen. Ich mache mir Musik an, entweder analog oder via Stream … ich koche … manchmal kommen Freunde vorbei. Hier ist ein unheimlicher Austausch. Alle Menschen, die hier aufschlagen, fühlen sich pudelwohl. Abends gibt es immer ein Weinchen, jemand bringt was zum Essen mit oder wir kochen gemeinsam.  

Für das Fotografieren ergibt sich ein spannender Effekt von unschätzbarem Wert.  

Egal ob Schauspieler oder Promis, die schon sonst wo auf der Welt waren … die kommen hier rein und fragen, ob ich hier leben würde, es wäre so persönlich … so einladend.  

Dieser Ort hier macht nicht nur etwas mit mir, sondern auch mit den Menschen, mit denen ich zu tun habe – die ich mit der Kamera einfangen möchte. 

Irgendwie ist uns die klassische Chronologie ein wenig abhandengekommen, was aber nicht
störend ist. Lass uns nun einen kurzen Blick zurück … zu Deinen Wurzeln werfen. Wir beide sind aus dem legendären Jahrgang 1963. Du … als „Hesse im Körper eines Mindeners“, wie Du es bei Deinem Vortrag auf der Veranstaltung „Learn and Give“ im November 2024 in Detmold vor vielen Foto-Enthusiasten aufgefächert hast. 

Das stimmt, ich bin in Minden geboren. Aber dann ging es für unsere Familie rasch über Nürnberg nach Frankfurt, wo ich quasi groß geworden bin. 

Fotos: Kirsten Buß

Deine Vita lässt sich aus vielen Fundstellen im Internet wie folgt skizzieren: Sprössling einer Familie, in der allesamt mit Werbung, sprich Marketing, zu tun hatten. Daraus resultierten auch schon in Kindesjahren einige Modeljobs. Du hast mit 14 Jahren eine Kamera von Deinem Vater geschenkt bekommen … das war quasi die Initialzündung für Dein heutiges Business.
Korrekt. 

Wenn ich das richtig verstanden habe, bist Du leidenschaftlicher Autodidakt, oder?
Auch das stimmt, ich habe die Praxis der Schulbank vorgezogen. Durch die Connections aus meinen Modeljobs für Gefriertruhen von Bosch … die Bravo Foto-Love-Story … aus der Familie … habe ich mit 17 Jahren angefangen, als freier Assistent mit Fotografen wie Horst Wackerbarth, Reinhart Wolf, Chuck Ealovega und Michael Ehrhart zusammenzuarbeiten. Insgesamt waren das sieben Jahre, in denen ich viel gesehen und gelernt habe. Während dieser Zeit habe ich auch noch Musik gemacht – bis mir einer meiner Mentoren gesagt hat, ich solle mich endlich entscheiden, ob ich Popstar oder Fotograf werden wolle. 

Ich habe meinen eigenen Stil entwickelt und als die Zeit dafür reif war, habe ich mich selbstständig gemacht. 

Anfang der Neunzigerjahre bin ich mit meiner damaligen Frau nach Mallorca gezogen. Wir hatten ein wunderschönes Studio in Pollença mit fantastischem Tageslicht.  

Ich bin viel unterwegs gewesen, sprich hin und her geflogen, um meine Jobs wahrzunehmen. Meine Frau zog es irgendwann wieder zurück nach Deutschland. Unsere Wahl fiel dann auf Hamburg, weil hier die ganzen Verlage mit ihren Redaktionen saßen, für die ich arbeitete.  

Nimm uns bitte einmal mit in ein konkretes Bild zu einem solchen Job.
Die Amis zum Beispiel … starten eine Telefonkonferenz auf der anderen Seite des Teiches, ungeachtet dessen, dass es bei uns drei Uhr nachts ist. Da wird auch nicht lange diskutiert. Und du musst die ganze Zeit voll auf Sendung sein, weil die Entscheidungen von dir wollen. Ihr kennt sicher Nob Hill in San Francisco – die ikonische Straße, wo das Cablecar zwischen Hügel und Beach pendelt. 

Krister Henriksson
Stockholm, Sweden,  2014 

Die wollen dann konkret von dir wissen, zu welcher Uhrzeit, wie lange, in welcher Höhe, in welcher Richtung du dort stehen wirst, um einen Ami-Schlitten abzulichten – inklusive der Brennweiten, die ich gedenke einzusetzen. Hintergrund ist, dass die den gesamten Verkehr dort für dich … für das Shooting zum Erliegen bringen, sprich einfrieren.  

Alle Anwohner von Nob Hill werden dazu benachrichtigt und gebrieft – wir reden über Downtown San Francisco, mit all dem Gewusel von Menschen. 

Letztendlich haben 24 Motorradcops an jeder Kreuzung und Einmündung gestanden, um die Aufnahmen möglich zu machen, zu denen ich spontan nächtlich eine klare Vision und konkrete Ansagen entwickeln musste. Das ist schon eine brutale Verantwortung. Du weißt genau: Wenn du das verkackst, war es das mit den Amis.  

Das spricht sich flugs rum und du wirst nie wieder angerufen. Du darfst auch nicht kompliziert wirken, was uns Deutschen manchmal zu eigen ist, aber auch nicht verhaltensflexibel. Ein „Ich glaub, ich möchte heute in die andere Richtung fotografieren“ wäre das Aus gewesen.  

Vermittele uns bitte einmal eine Budget-Idee zu einem solchen Job. 
Da wurden nicht selten siebenstellige Beträge ausgegeben, für letztendlich drei Motive, die am Ende verwertet werden. Wir haben Wasserbassins in den Joshua-Tree-Nationalpark … eine Wüstenlandschaft im Südosten Kaliforniens, gebaut.  

Wenn du ein neues Produkt im Automotive-Bereich, welches noch geheim ist, spektakulär in Szene setzen willst, kann das schon Sinn ergeben. Du kannst dort elendig weit gucken. Das Komplizierteste in diesem Zusammenhang war ein Auftrag für eine Szenerie mit Eis. Zu dem Zeitpunkt gab es auf der Nordhalbkugel noch kein Eis und auf der Südhalbkugel setzte bereits die Schmelze ein. Wenn du dann recherchierst zu gefrorenen Seen mit einer tollen Berglandschaft, landest du in Neuseeland.  

Wir sind eine Woche Neuseeland mit dem Helikopter abgeflogen auf der Suche nach der ultimativen Location – mit dem Typen, der mit dem Regisseur Peter Jackson alle Luftaufnahmen zu „Lord of the Rings“ eingefangen hat. Wir haben alle Drehorte aus der Luft gesehen … auch den legendären Milford Sound, den bekanntesten Fjord Neusee-
lands, wo der gigantische Wasserfall eines Gletschers in die Lagune stürzt. Wenn du den steil hochfliegst, auf dem Gletscher landest und ein Zigarettchen rauchst, kommen dir unweigerlich Bilder von Jurassic Park in den Sinn. 

Joachim Gauck

Berlin, Germany, 2011

Bei der Einführungsrunde hast Du uns von der bevorstehenden Ausstellung in München erzählt – in Kooperation mit Leica, oder?
Ja, ich bin ja mit denen verbändelt, wie kennen uns schon lange … ich arbeite auch mit deren Kameras. Die Ausstellung läuft vom 31. Januar bis zum 13. April 2025, in der Leica Galerie in der Maffeistraße in München, direkt neben Schumann’s Tagesbar. 

Wenn Du Dich selbst einmessen würdest, im Markt der deutschen Fotografen, wo findet sich Anatol Kotte wieder?
Gute Frage. Ich habe mal gehört, dass es allein in Hamburg 2.500 Menschen geben soll, die sich Fotografen nennen. Ich habe keine Ahnung, wo ich mich da einreihen sollte. Die Frage stellt sich für mich auch gar nicht. Man kann das aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, vom Einkommen her … vom Ruhm her. Ich habe echt gut verdient – für einen Jungen, der nicht mal die mittlere Reife abgeschlossen hat. Natürlich gab es diese Momente, in denen du denkst: „Kneife mich mal – wie bist du in dieser Glamour-Welt gelandet?“

Kommt es in deiner Arbeitsrealität noch zu Arrangements wie TFP (Time for Pictures)?
Ja, das mache ich immer noch. Für mich sind das „Fingerübungen“, wie bei einem Klavierspieler. Wenn ich jemanden sehe, den ich interessant finde, frage ich: „Hast du mal Lust, dass ich dich fotografiere?“ Oder ich gehe in eine Stadt und suche mir zehn Leute, die ich in ein Studio oder zu einer Location einlade.  

Ich finde das spannend, weil du dich blitzschnell auf Menschen einstellen musst, die du nicht kennst. Wenn dann zum Beispiel eine Sienna Miller nach einem 15-Stunden-Flug suboptimal gelaunt vor dir steht … und eine Idee zum Shooting hat, die du total dämlich findest, dann hast du durch diese Fingerübungen eine breiteres Repertoire, solche Situationen zu händeln. 

Angela Merkel

Berlin, Germany, 2012

Ist es Dir immer leichtgefallen, Leute auf der Straße anzusprechen, um sie für ein Shooting zu begeistern?
Nein, ich habe mir irgendwann Karten drucken lassen. Auf der Vorderseite ein paar Hochglanz-Beispiele von meinen Fotos und auf der Rückseite in Deutsch und Englisch: „Ich würde Sie gerne fotografieren“ – mit Kontaktdaten. Die habe ich verteilt … manchmal im Halbdunkeln … auch in Kneipen, wenn ich einen sitzen hatte. Bisweilen schlugen dann diese Menschen unvermittelt bei mir im Studio auf – „die Geister, die ich rief“ – im wahrsten Sinne des Wortes 😉  

Habt ihr Lust, dass wir euren mitgebrachten Brunello entkorken? Ich hole den mal. 

Während ich die Batterien des Zoom-Recorders wechsele, kehrt Anatol mit einer Kladde unter dem Arm, drei neuen Gläsern und dem besagten Tropfen zurück, der eigentlich als Gastgeschenk gedacht war. Wir hatten auf seinem Instagram-Profil erspäht, dass Anatol unlängst zum Biken in der Toskana unterwegs gewesen war – wo auch der Brunello ein Thema war. Nach dem Anstoßen blätterte er mit uns in der Kladde mit Polaroids und handschriftlichen Notizen. Alle Seiten mit einem Stempel paginiert … akkurat eingeklebte Fotos, Randnotizen, Signaturen von den Promis. 

Das könnte euch gefallen. Von diesen Büchern habe ich Dutzende. Archivierte Notizen von all meinen Jobs. Hier zum Beispiel Gerhard Schröder, Jürgen Vogel, Nicolette Krebitz, André Eisermann, Eva Herman, Jürgen von der Lippe, Harry Wijnvoord, Hans Meiser, Ulla Kock am Brink, Anna Thalbach, Michael Schumacher …  

Jetzt zu einer Frage, die dermaßen unterkomplex ist, dass ich mich dafür schämen könnte. Trotzdem: Hochformat oder Querformat?  

Es gibt ja diese lustige Weisheit, dass sich der liebe Gott etwas dabei gedacht haben könnte, dass unsere Augen nebeneinander und nicht übereinander liegen.  

Beim genauen Hineindenken tendiere ich zum Querformat, weil ich die Welt auch so sehe und wahrnehme. Ich habe auch kein Problem damit, wenn der Falz im Fotoband quer durch das Gesicht des Portraitierten läuft, wie bei Helmut Schmidt zum Beispiel, in „Iconication“. Es gibt Pedanten, die würden mich dafür an den nächsten Baum nageln. Das steckt doch seit Urzeiten in uns drin. Als der Mensch damals von den Bäumen geklettert ist, musste er sich nach rechts und links orientieren, ob dort etwas Böses anmarschiert. Genauso wie es sich eingeprägt hat, dass wir automatisch auf die hellste Stelle schauen – das war damals das Feuer oder der Höhlenausgang. 

Helmut Schmidt 

Hamburg, Germany, 2013

Quadratformate finde ich fast noch fragwürdiger in der Fotografie. Eine Hasselblad ist unbestritten eine tolle Kamera. Für mich persönlich macht sie aber keinen Sinn, es sei denn, ich entschließe mich irgendwann, von morgens bis abends Plattencover zu fotografieren. Für mich ist vieles quer.  

Welche deiner Begegnungen hat dich nachhaltig positiv beeindruckt. 
Joachim Gauck – einfach ein irrer Typ. Normalerweise bin ich bei solchen Terminen immer ganz fix. Ich mach meine Fotos gerne vorneweg, bevor es ins Interview geht, und dann rausche ich von dannen. Bei Gauck habe ich mir unheimlich viel Zeit gelassen, meinen Kram einzupacken. Der Typ ist der Hammer, wenn er anfängt zu erzählen.  

Hast Du Lust, dass wir Deinen Bildband innerhalb von zehn Minuten gemeinsam durchblättern? Wo immer ich ein gelbes Post-it eingeklebt habe, wäre ein kurzes Blitzlicht/eine Anmerkung von Dir toll. Für die Leserinnen und Leser nenne ich den Titel des Fotos und dann geht es in den Dialog.  

So eine Art Speeddating meinst du? Schieß los …  

Bleiben wir bei Gauck … für mich persöhnlich  eine der stärksten Impressionen in „Iconication“. Eine irres Bild … einfach nur Wow!!! 
Hast du beim ersten Blick auch gedacht, das sei Helmut Kohl? Ich finde Fotos cool, bei denen man einen Moment nachdenken muss. Man muss den Menschen beim Portrait ja nicht immer mit der Kamera ins Gesicht springen.  

Zu Lina habe ich mir „Spiel mit Unschärfe und Schärfen“ notiert. Glasklare Augen und ein verschwommener, geschminkter Mund.  
Ja, offene Blende, das ist mein Ding. Das mache ich gerne. So etwas bekommst du super mit einem Leica Noctilux 1.0 hin oder einem Voigtländer Nokton 1.0 – das sind echt feine Gläser. Damit gehe ich gerne ganz dicht ran. Es geht nicht immer nur um Pixel, es geht um möglichst wenig im Weg zwischen Linse und Mensch. 

Angela Merkel … die stressigsten 150 Sekunden deines Lebens, oder? 

Mir fiel seine Story vom Shooting mit Angela Merkel ein, die er in Detmold mit dem Publikum geteilt hat. Anatol wartete bereits eine geraume Zeit vor dem Büro unserer damaligen Bundeskanzlerin. Plötzlich kam Steffen Seibert, Sprecher der Bundesregierung und Chef des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, raus und sagte zu ihm: „Kein guter Tag heute. Die Kanzlerin hat maximal 1 ½ Minuten Zeit, bekommen Sie das hin?“ 

Til Schweiger

Cologne, Germany, 2007

Ob die Kanzlerin seinerzeit wusste, dass sie von einem Autodidakten fotografiert wurde?
Ich denke nicht. Es war auf jeden Fall ein mega-spannendes Shooting und hoch ambitioniert – was den Zeitrahmen angeht. Wann hat man schon die Möglichkeit, die seinerzeit mächtigste Frau der Welt zu portraitieren – auch wenn einem nur 90 Sekunden Zeit dafür zugestanden werden. Menschen in einer solchen Funktion sind einfach extrem stramm getaktet – das muss man verstehen, wenn man einen solchen Job angeht. 

Wie immer hatte ich eine klare Vision davon, welche Bilder ich schieße. Ich wollte aber auch Impressionen von Frau Merkel, bei denen der Mensch im Vordergrund steht, nicht die Macht, die sie verkörpert. 

Ich wusste, dass Andreas Mühe ihr Lieblingsfotograf war. Durch die wahrheitsgemäße Aussage, dass der damals bei mir gelernt habe, bekam ich weitere 60 Sekunden als Zugabe von der Kanzlerin – bevor sie mit ihrer Armada weiterrauschte. 

Wie oft hast Du den Auslöser in diesen 150 Sekunden betätigt?
Ich habe zehn Belichtungen gemacht, von denen sechs weltweit abgedruckt wurden. Eines davon hat es auf den Titel des Time Magazins gebracht – das war wie ein Ritterschlag für mich. 

Das Shooting mit Rihanna … Wie ist die Arbeit mit solchen Menschen am Set … mit solchen Diven? Und wie fühlt es sich an, von einem Weltstar massiert zu werden? 😉
Du brauchst einen klaren Plan und musst superselbstsicher auftreten. Du darfst mit keinem Detail verraten, dass du aufgeregt bist. Sicherlich beeindruckte es sie ein wenig, dass extra ein Fotograf aus Deutschland eingeflogen worden war. Es war ein Job für Chevrolet unter dem Veranstaltungs-Label „Fashion Rocks“. 

Ich habe zu Rihanna gesagt: „Ich habe eine Vision. Ich sehe dich in einem schwarzen Lackanzug in dem Auto sitzen.“ Alles war gut vorbereitet und seriös. Letztendlich zogen wir ja beide am gleichen Ding – sie wollte super Fotos und alle wollten ein gutes Ergebnis. 

Darauf hat sie sich eingelassen. Lustig war, dass ich nachher mit meiner Crew … sprich Assistenten, Artdirector und anderen um einen Monitor saß, um die Fotos zu sichten. Meine Schultern schmerzten, durch das lange Shooting mit schweren Kameras. Als ich mir in den Nacken griff, spürte ich dort plötzlich zwei weitere Hände, die anfingen, mich zu massieren. An den aufklappenden Mündern meiner Crew konnte ich ahnen, dass die Ikone selbst gerade Hand an mich legte – vollkommen unzickig, bar jeder Allüren … einfach nur aus Verständnis und Respekt für meinen Job an diesem Tag.  

Kommissar Wallander – ich mag diesen Charakter …
Krister Henriksson heißt er, der ist genauso wie in den Filmen von Henning Mankell. Ich habe ihn kennengelernt durch einen Autojob in Schweden. Beim Lunch plauderte der Produzent mit mir … auch ein netter Typ. 

Ich habe ihm von meinem Faible für nordische Krimis erzählt. Er meinte, dass er Krister, den Darsteller, der Wallander spielt, schon seit Kindheitstagen kennen würde. Er habe viel mit ihm gearbeitet und produziert. Natürlich fragte ich sofort, ob er Krister anrufen könne. Ich würde ihm ein Taxi bestellen, er könne mit uns zu Mittag essen und anschließend würde ich ihn gerne fotografieren. Eine Stunde später erschien „Kommissar Wallander“ genauso zerzaust, wie man ihm aus den Filmen kennt – und jetzt auch von meinem Foto.  

Auf Deine Tatort-Bezüge kommen wir in einer weiteren PAN-Ausgabe noch zu sprechen … zu schreiben. Schön zu hören, dass uns auch die Begeisterung für skandinavische Krimis verbindet – Nordic Noir … wie man dieses Genre bezeichnet. 
Immer ein bisschen düster, mystisch … ja, das mag ich gerne.

Til Schweiger | Cologne | 2007
Eine Lanze für Til

Ein starkes Foto … finde ich auch. Ich hatte es in Detmold schon gesagt, dass Til von vielen verkannt wird. Möglicherweise drückt er sich manchmal etwas ungeschickt aus. Aber im Grunde genommen ist das ein feiner, anständiger Kerl.  

Helmut Schmidt | Hamburg | 2013
Smoke-Impressions

Der Altkanzler gehörte sicherlich zu meinen härtesten Kandidaten. Dreimal habe ich in seinem Reihenhaus in Hamburg-Langenhorn gesessen und darauf gewartet, ihn zu portraitieren. Wenn so Menschen „not in the mood“ sind, dann machst du nix, dann wartest du zwei ganze Tage in einem Zimmerchen, bevor du irgendwann vom Sicherheitspersonal bzw. von Ehefrau Loki vorgelassen wirst.  

Als ich den Raum betrat, saß Helmut Schmidt am Tisch im Gespräch mit Joschka Fischer – neben ihm etliche Schachteln Menthol-Zigaretten. Er … natürlich rauchend, wie immer … sich eine Zigarette an der anderen ansteckend. Ich habe wunderschöne Fotos von dieser Szenerie gemacht. Nach zwei Minuten guckte er mich an und sagte: „Wissen Sie, ich bin wie Marlene Dietrich – mich hat man eigentlich schon tot fotografiert.“ Meines Wissens ist es das letzte Shooting vor seinem Tod gewesen. 

Wolfgang Schäuble | Berlin | 2011
Wow-Impression 

Das war zu der Zeit, als er noch Finanzminister war. Vollblut-Politiker, Rollstuhlfahrer, vollkommen uneitel, aber mega-fokussiert. So Typen haben mit meiner Fotografenwelt nichts, aber auch gar nichts zu tun. Mir war klar, dass ich den nicht für mich gewinnen … sprich auf meine Seite ziehen konnte. Als der anrollte, war ihm anzusehen, dass er mit seinem Kopf in einem ganz anderen Mindset unterwegs war. 

Für die meisten Politiker sind alle Fotografen gleich. Die haben kein Gespür oder Verständnis dafür, dass ein Portrait-Fotograf mehr Zeit brauchen könnte als jemand, der ein rasches Bild für einen Artikel schießen muss.

Wolfgang Schäubles Foto hatte ich vorher schon gemacht – in meinem Kopf. Ich wollte den knallharten Finanzminister ablichten, der er nun mal war – aber nicht klassisch im Rolli sitzend.

Alles war eingerichtet, das Licht auf Tischhöhe. Ranrollen … dreimal abdrücken, das war es. 

Iconication

www.anatolkotte.com

bei Amazon

Als er wegrollte, hörte ich ihn zu seinem Pressesprecher in seinem schwäbischen Dialekt sagen: „Da müssa mir uns merka – der isch flodd.“

Das ist auch eine der Impressionen, von denen ich glaube, dass sie zu meinem „fotografischen
Vermächtnis“ gehören könnten. 

Du hast zwischendurch die Analogie zwischen
Fotografieren und Kochen angedeutet, lass uns das gerne vertiefen.
 
Gerne. Wenn ich koche, geht es ums Improvisieren … ums Kombinieren. Gerichte anders zu denken … neu zusammenzuführen. Das ist beim Fotografieren genauso – du kombinierst Position, Licht, Ausschnitt, Brennweite, Hintergrund, Vordergrund, Schärfe und fügst es in einem neuen Rahmen zusammen. Allen stehen die gleichen
Ausgangsmaterialien zur Verfügung, es kommt auf dich an, wie du das arrangierst. 

Bleiben wir im Thema … in der Analogie zum Kochen. Ich bin ein Messer-Freak, das heißt, ich habe eine stattliche Sammlung von Küchenmessern. Wenn ich mich konzentrieren müsste, käme ich mit zwei bis drei Messern vollkommen klar. Was wären Deine elementarsten Messer – bezogen auf die Fotografie? Mit welchen Brennweiten wärest Du unterwegs?
Mit einer 50er-Brennweite – ein bisschen länger als die normale Sicht. Ich kann jemanden leicht fließen lassen oder ihm eine Dynamik geben, wenn ich den Menschen so ein bisschen an den Rand setze. Trotzdem kann ich ihn close erwischen. Das deckt für mich alles ab, was ich bevorzuge. 

Sag einmal, wenn Du jetzt deine Ausstellung in München eröffnest: Teilst Du dann die ganzen Hintergrundgeschichten zu den Fotos mit dem Publikum? Da hat ja jedes Bild seine eigene Story.
Gelegentlich mache ich das am Tag nach der offiziellen Eröffnung … so im kleinen Kreis. Manchmal erzähle ich mehr … manchmal weniger. Man muss immer ein wenig aufpassen, um das Vertrauensverhältnis zu den Portraitierten zu wahren.

Ich empfände das als unterlassene Hilfeleistung an mir als Betrachter, wenn Du mir die Storys vorenthalten würdest – zumal Du echt gut erzählst. Kannst Du eigentlich auch schreiben?
Wenn ich schreiben könnte, müsste ich nicht fotografieren 😉

Ich weiß gerade nicht, was einfacher ist – Deine Antworten in einen lesegeschmeidigen Text zu kuratieren oder zehn Fotos von dir zu machen 😉
Ansichtssache 🙂

Epilog 

Nach 5 Stunden und 45 Minuten drücke ich auf den Stop-Button meines Zoom-Recorders – wohl wissend, dass alle am Tisch gerne noch tiefer in einzelne Themen abgetaucht wären. Gemeinsame Storys zu Paul Bocuse, legendären Molteni-Herden, spektakulären Gerichten, Kitchen- und Wine-Storys aus Südafrika, 49 Degrees, die geteilte Passion zu Land Rover … zum Format Tatort … seine Freundschaft zu dem Regisseur Lars Kraume und dem Film „Der vermessene Mensch“ … für all das fehlt uns hier der Raum.  

Wir sind sicher, dass wir uns hier im Studio oder in irgendeiner Kombüse in Hamburg wiedersehen werden, um bei einem Weinchen weitere Storys zu konservieren.