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Geteilte Gedanken

Jun 3, 2024 | Specials

Hochkant versus querkant | 9 : 16 versus 16 : 9 |  Von PoSerinnen, Influencerinnen und Plattfischen 

Foto: Kirsten Buß // Text: Roland Buß

Mitte April war ich zu einer Workation (einer Verbindung von Urlaub und Arbeit) auf Mallorca. Zunächst drei Tage BarCamp auf einer tollen Finca.
Erfahrungsaustausch und Inspiration mit Kolleginnen und Kollegen der German Speakers Association — dem weltweit zweitgrößten Berufsverband professioneller Vortragsredner. 

Anschließend galt es, einige Storys für die Maiausgabe des PAN zu Papier bzw. in die Tastatur zu bringen. 

Warum nicht an schönen Orten, wenn ich gerade einmal hier bin? 😉  Über die Plattform Yescapa, quasi das mobile Pendant zu AirBnb, hatte ich „Woody“ gemietet. Einen VW Crafter TDI, der von seinen Besitzern Toni und Aida liebevoll zu einem gemütlichen „Nest auf Rädern“ umgebaut
worden war. 

So standen vier Tage und Nächte Insel-Hopping an, um an schönen Locations zu verweilen und zu schreiben. 

Als erste Station hatte ich meine Lieblingsbucht Cala Llombards ausgewählt — für gewöhnlich ein eher ruhigeres Fleckchen, das gerne auch von Einheimischen frequentiert wurde. Aber an diesem Sonntagmittag war es anders als bei meinen zurückliegenden Besuchen, seit dem Jahre 2004. Allerorts posende weibliche Teenies in einer geschätzten Altersklasse zwischen 12 und 14 Jahren.
So unterschiedlich deren Nationalitäten, so einheitlich Gestik und Mimik beim Posing. Man(n) konnte den Eindruck gewinnen, eine Hundertschaft von Synchronschwimmerinnen mache sich warm, um einen Guinness-Rekord in dieser Mittelmeer-Bucht hinzulegen.
Was diesen Verdacht pulverisierte, war die Art der Bekleidung. Während sich Synchronschwimmerinnen vornehmlich in uniformierten Badeanzügen präsentieren, war das bevorzugte Outfit der pubertierenden Badenixen ein String-Bikini-Slip, wie meine Recherchen im Nachgang ergaben. Ein Hauch von Nichts, der möglicherweise nur dazu dient, eine trennscharfe Linie zwischen rechter und linker Pobacke zu ziehen — wozu auch immer.

Was all den zukünftigen Influencerinnen, Models etc. zu eigen war, war der markante beidhändig-rückwärtige Griff in die Po-Gegend. Währenddessen wuselten die jeweils iPhone-bewaffneten Freundinnen um die PoSerinnen ;-), um das angelupfte Hinterteilchen in Fotos und Videosequenzen zu bannen.

Es war schwer möglich, an diesem Treiben vorbei auf die traumhafte Kulisse dieser Bucht zu schauen. Selbst wenn sich für einen kurzen Moment der Blick aufs Meer inmitten dieses unausgesprochenen Insta- und TikTok-Flashmobs auftat, wanderten meine Augen zu den Protagonistinnen rechts und links, flankiert von der Frage: Ich weiß nicht, was soll das bedeuten? 

Nach ein paar Bahnen im Meer saß ich am Schwenktisch von Woody, um die Kitchen-Story „Vergrabener Lachs“ für den Mai-PAN in die Tastatur meines MacBooks fließen zu lassen. 

Zuvor wollte ich wissen, was es denn mit dem eigenartigen Po-Griff auf sich hat. Der Blog-Artikel „Eine Insta-Pose, so betörend wie verstörend“ versprach Aufklärung
— zumindest teilweise. Ich zitiere Linda Leitner als Autorin: 

„Was mir auch neu ist, ist die Tatsache, dass man sich jetzt den Arsch hält, sobald man einen Bikini trägt. Und jemand ein Foto macht. Oder machen soll. Klingt komisch, ist aber so. Einen Namen für dieses Phänomen habe ich nicht gefunden.“

https://www.schweizer-illustrierte.ch/body-health/mind/eine-insta-pose-so-betorend-wie-verstorend

Den Fachbegriff für diesen Griff habe auch ich nicht gefunden. Ich weiß jetzt aber, was eine „Bananenfalte“ ist — nämlich die Furche zwischen Po und Oberschenkel. Sexy sieht sie aus, wenn sie sich durch schlanke Oberschenkel und einen straffen Po scharf abzeichnet — war zu lesen. 
Und wenn diese Furche nicht oder noch nicht makellos erscheint, wird halt nachgeholfen bzw. nachgegriffen.

Ich glaube nicht, dass ich mit einem hohen Maß an Prüderie ausgestattet bin, aber die Szenerie an der Bucht empfand ich als sehr bizarr. 
Viel zu junge Mädchen, in viel zu knappen Bikinis, in viel zu aufreizenden Posen. Wie bei allem gilt: „Too much is Quatsch.“

Impressionen: BarCamp

Zeitsprung: Zwei Tage später stand ich mit Woody in der Nähe des Leuchtturms von Port de Sóller. Durch die geöffneten Hecktüren blickte ich entspannt liegend aufs offene Meer — nur noch viereinhalb Stunden bis zum Sonnenuntergang. Toni, der Woody-Vermieter, hatte mir mit auf den Weg gegeben, dass es keinen besseren Spot geben würde, um diesen spektakulären
Moment zu genießen. 

Ich ließ die Erlebnisse des Tages Revue passieren. Auf meiner Anreise hatte ich das Städtchen Sóller passiert — einer der für mich schönsten Orte auf der Insel. Für einen Dienstag außergewöhnlich viele Autos, wie ich fand — fahrend wie parkend. Möglicherweise Markt, ein Volksfest, whatever? 

In dessen kleinem, pittoresken … drei Kilometer entfernten Hafen war ich auf der Suche nach einem kleinen Restaurant zum Lunch. Die Wahl fiel auf das Ses Oliveres — meine unbedingte Empfehlung, falls es euch mal dorthin verschlagen sollte. 

Sowohl auf dem Hin- und Rückweg am Strand vorbei verbuchte ich wieder unzählige Begegnungen mit Bananenfalten-Shooterinnen und deren posenden Freundinnen. Diesmal angereichert um die Besitzerinnen von aufgespritzten Lippen, Wangen und anderen manipulierten Körperteilen. Allesamt nicht-natürliche „Ausbauten“ die in Szene gesetzt wurden. 

Ich glaube, ich werde alt … bzw. meine Toleranz geht mir flöten. Mir kommt der bajuwarische Kabarettist Günther Grünwald in den Sinn und dessen Feststellung: „Wir leben im Plemplem-Land.“ Ich weiß nicht, ob er seinerzeit nur auf sein eigenes Bundesland abstellte oder auf unsere Republik? 😉

Egal … angesichts des Wahrgenommenen beziehe ich Mallorca spontan mit ein … besser gesagt, einen nicht unerheblichen Teil der dort einfliegenden Touristen. Dazu zählen sicherlich viele Deutsche, die die Insel mental sowieso annektiert haben … als auch Asiaten, Holländer, Engländer … an denen ich irritiert vorbeiflanierte. Wir scheinen auf einem PPP zu leben — einem Plemplem-Planeten. 
https://www.youtube.com/watch?v=nEhCH4d_8T8

Genug geruht. Während einer weiteren Schreibphase … diesmal im Freien hinter dem Camper … begleitet von einem Mucho Más, einem herrlich frischen Rosé, sprachen mich zwei Kölner Weltenbummler an. Wir tauschten uns aus, über schöne Standplätze auf der Insel. 

Meiner Frage, was denn im Hauptort Soller ursächlich für den Auto-Trouble sei, begegneten die beiden mit einer unglaublichen Geschichte. Demnach sollen zu Corona-Zeiten zwei Influencerinnen diesen Ort für sich entdeckt und gehypt haben. Soller habe sich zu einem Mekka für Selfie-Touristen entwickelt. Mit der Konsequenz, dass die heimische Gastronomie ausblute. Nicht wegen des konsumierten Essens und der Getränke der Social-Media-Freaks. Sondern weil die anreisenden Köche und Servicekräfte aus dem Umland daran verzweifeln, in dieser 14.000-Einwohner-Gemeinde im Tal der Orangen noch einen freien Parkplatz zu finden, um ihrer Arbeit nachzugehen. Unter einer Stunde sei da nichts mehr zu machen. Die Not leidenden Gastronomen würden eine solche Krawatte auf die Selfie-Garde schieben, dass es an ein Wunder grenze, dass es bislang noch nicht zu Übergriffen gekommen sei.

Ähnliches habe sich in der Cala Pi ereignet. Ich lese später im Netz: Schluss mit Instagram-Gehampel an der Cala Pi auf Mallorca: Gemeinde reißt Plattform ab

Damit war nicht ein Hackerangriff der Balearen auf Instagram gemeint, sondern der Abriss einer Beton-Plattform, rund 15 Meter über dem türkisen Wasser der Cala Pi im Süden. 

Impressionen vom Insel-Hopping in Spanien 

Ich lese: Unzählige Influencer und solche, die es werden wollen, posierten in den vergangenen Jahren auf der Konstruktion — und brachten sich damit in Lebensgefahr. Seit wann genau die Plattform existiert hat, ist nicht bekannt. Die Gemeinde geht davon aus, dass sie vor über 30 Jahren von Fischern errichtet worden ist. Per Kran holten sie damals die Fische aus dem Meer aufs Land.
Von der fotowütigen Meute wurde sie erst vor zwei bis drei Jahren entdeckt. Teilweise standen die Leute Schlange, um einen riskanten Schnappschuss zu ergattern.

20.05 Uhr. Ich brutzelte mir zwei Hände voll Gambas in einer Salsa von geschmolzenen Tomaten und frischer Zitrone. Als ich mich zum Essen draußen niederließ, war ich umgeben von gefühlt 150 Handy-bewaffneten, zweibeinigen Lemmingen, die den Anschein machen, als wenn sie sich zur untergehenden Sonne von den dortigen Felsen stürzen wollten. 

Nur wenige legten Wert darauf, dieses Naturschauspiel genießen. Den meisten schien ein Bild-Dokument für die Community zu genügen — als Beweis, dass sie für die Zeitdauer eines Schnappschusses an diesem wunderschönen Ort anwesend gewesen waren — allerdings ohne ihn überhaupt wahrgenommen zu haben. 

Die Wanderheuschrecken kletterten zurück in ihre gemieteten Vehikel. Genauso schnell, wie sie eingeflogen waren, waren sie auch wieder verschwunden.

Im eingangs erwähnten BarCamp hatten wir u. a. viel über Social-Media-Strategien gesprochen. Wo muss/sollte man präsent sein. An Reels auf Insta, TikTok und YouTube-Shorts schien kein Weg vorbeizuführen. Allesamt im Hochkant-Format aufgenommen — keines mehr als zwischen 15 und 60 Sekunden lang. 

Diese Hochkant-Filmerei und -Knipserei geht mir schon seit geraumer Zeit auf den Keks … aber dazu gleich mehr. 

Weiterer Zeitsprung: Ryanair war sicher gelandet. Ich tauschte Woody … den bequemen, fahrbaren Untersatz der letzten Tage, gegen meinen treuen Land Rover Defender, der am Flughafen Weeze auf mich wartete. 

50 Minuten Fahrzeit bis zu unserem Nest in Bocholt. Zeit für Gedanken. Beim Blick durch die kantige Windschutzscheibe, dieses ebenfalls kantigen Unikums aus dem Jahre 2007, bauten sich ein paar Fragen in mir auf: 

Wohin wird das führen, wenn wir uns von unseren Handys einen Hochkant-Blick auf die Welt aufzwingen lassen? 

Scheint es naheliegend, dass die Automobilhersteller irgendwann Hochkant-Windschutzscheiben verbauen, wir den sonntäglichen Tatort auf einem Hochkant-Flatscreen schauen?

Wie werden die Kinosäle der Zukunft konzipiert sein? 

Ich fuhr rechts ran, um eine KI mit diesen Gedankenspielen zu füttern. Meine „intelligente Kollegin“ (IK vs. KI) tat sich anscheinend überhaupt nicht schwer mit diesen Zukunftsentwürfen — ich
derweil schon.

Mit dem iPhone 13 rief Apple den Slogan aus: „Hollywood in your Pocket.“ Ich liebe es, mit meinem iPhone cineastisch anmutende Video-Sequenzen zu drehen. Vor einiger Zeit bin ich auf den YouTube-Channel von Rainer Wolf und seiner Wolffilms Academy gestoßen. Da dreht sich viel um die epische Gestaltung von Filmsequenzen — größtenteils mit dem iPhone. Galaktisch, was das Teil kann. Danke fürs Teilen deiner Impulse, deiner Expertise, lieber Rainer.

https://www.youtube.com/@rainer_wolf

Warum sollen wir auf dieses in die Breite angelegte 16 : 9-Erlebnis verzichten? Zumal es mir logisch erscheint, dieser natürlich vorgegebenen Blickweise zu folgen. Oder sollte es ein Zufall sein, dass unsere Augen horizontal, sprich nebeneinander angelegt sind 😉
Bei einem Ausschnitt von 9 : 16 rutscht halt vieles aus dem Bild, was wichtig sein könnte.
Wo macht 9 : 16 überhaupt Sinn? Warum hat Leonardo da Vinci die Mona Lisa hochkant gemalt und das letzte Abendmahl im Querformat?
Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass Einzelpersonen besser hochkant und Gruppen eher quer eingefangen werden sollten. Folglich okay, was ich dort an den Stränden beobachtet habe — zumindest fototechnisch. 

Wie schaut es bei Landschaften, Street Photography, Food-Fotos etc. aus? Unsere Handys haben es drauf, den Bildschirm automatisch zu drehen. Wir hingegen scheinen es zu verlernen.
Nicht selten werde ich von den Ladys in unserem Team dazu animiert, meine Food-Fotos hochkant zu schießen. Ich weigere mich beharrlich. Nicht aus spätpubertärem Trotz, sondern weil unser Lacanche-Herd, unsere Speisetafel bei 16 : 9 in Gänze abgebildet werden und nicht nur ausschnittweise.
Außerdem bin ich der Ansicht, dass man auch beim Kochen „großes Kino“ erzeugen kann — für Augen und Gaumen. Warum sollte ich mich da auf einen Schmalfilm begrenzen?
Bloß weil die Plattformen
das wünschen? 

Apropos „platt“… wusstet ihr, dass Plattfische wie Scholle, Steinbutt, Seezunge etc. zunächst als normale, aufrecht schwimmende Fischchen aus den Eiern schlüpfen? Erst beim erwachsenen Tier ändert sich das. Dann wandern ihre Augen auf eine Seite des Kopfes, während der Fisch sich auf die andere Seite legt. Marisha, Meeres-Biologin und Tochter meines Freundes Johan, hat mir das vor 15 Jahren im Two Oceans Aquarium in Kapstadt erklärt.

https://www.youtube.com/watch?v=qePwW44HhNg

Ich weiß nicht mehr, was ursächlich für diese Metamorphose ist. Ich halte es aber für naheliegend, dass uns etwas Ähnliches drohen könnte. Wenn wir dieses Hochkant-Gucken weiterhin so forcieren, dass das Querformat zur Bedeutungslosigkeit verkommt, wird sich die Stellung unserer Augen in Richtung vertikal verschieben. Ob das rechte oder linke Auge anfängt zu
wandern und wie lange das dauern wird, ist noch ungewiss. Fakt ist, dass es passieren wird. 
Oder sollte es ein Zufall sein, dass uns unsere Workation-Tour nach Goedereede unvorhergesehene Einblicke in eine Plattfisch-Seafarm gewährt hat? Ich betrachte das als Zeichen, dass ich da einer ganz großen Nummer auf der Spur bin. 
Ich habe meine Theorie mit unserem Freund und Augenspezialisten Dr. Martin Dörner beim gemeinsamen Abendessen erörtert. Er ist (noch) nicht meiner Meinung, obwohl er ansonsten ein blitzgescheiter Zeitgenosse ist 😉 Aber … die Evolution lässt sich nicht aufhalten. 

Ich betrachtete ungläubig irritiert die mittels KI erzeugten Bilder und warf den Motor meines Landys an. Auf den letzten Kilometern bis zur Ankunft an unserem Nest schloss ich einen Vertrag mit mir selbst: „Ich werde aus diesem ganzen Hochkant-Hokuspokus aussteigen, bevor ich überhaupt richtig eingestiegen bin.“
Ich bin eher der „quere Typ“ — der Quergucker, mit der geraden Denke und der Sehnsucht nach „unplugged“ — dem Authentischen, Unverfälschten. Deswegen werde ich mir auch nicht meinen unteren Rippenbogen durch eine OP entfernen lassen, um eine noch schönere Taille zu haben 😉
Bei den Fake Freckles, den künstlichen Sommersprossen, bin ich mir noch nicht gänzlich sicher. Ich fand die bei Pippi Langstrumpf immer ziemlich kiebig 😉 Übrigenfalls … werden wir uns auch daran gewöhnen müssen. Bei den Plattfischen verliert die dem Meeresboden zugewandte Körperseite ihre Pigmentierung. Ich verliere mich ebenfalls … in meinen Gedanken.

Auch wenn wir im letzten PAN mit dem „vergrabenen Lachs“ schon ein Fischgericht vorgestellt haben. Hier keine Kitchen-Story mit einem Plattfisch zu bringen, wäre ein nicht verwandelter Elfmeter 😉