Interview: Roland Buß // Fotos: Kirsten Buß
Walking-Session mit Thomas Waschki und Jule Wanders
Prolog
Mitte September trafen wir uns im Verlag mit Thomas Waschki, dem Ersten Beigeordneten der Stadt Bocholt, und Jule Wanders, der Leiterin des Fachbereichs Kultur und Bildung. Ein wichtiger Punkt auf unserer Agenda war der aktuelle Sachstand zum Projekt Lernwerk. Daraus erwuchsen Idee und die Einladung zu einem gemeinsamen Rundgang, um die Eindrücke mit euch Leserinnen und Lesern zu teilen.
Dieser weitere, wesentliche Baustein des Kubaai-Projektes liegt auf einer von Paulas Lieblings-Gassi-Runden. Für uns, als neugieriggespannte Vorbei-Flanierer, scheint sich das Finale anzubahnen. Somit sehen wir dem Blick hinter die Fassaden dieses Gebäudes mit Spannung entgegen. Mit dem Kulturdezernenten Thomas Waschki und seiner Kulturchefin“ Jule Wanders haben wir unseren gemeinsamen Rundgang, aufgrund von Anschlussterminen, auf 90 Minuten begrenzt. Mal schauen, ob es dabei genauso spannend zugeht wie bei einem Heimspiel des 1. FC Bocholt – der fulminant in diese Regionalliga-Saison 2023/2024 gestartet ist.
Bevor wir uns zu Fuß auf den Weg machen, werfe ich rasch noch ein Blick auf die Webseite des betreuenden Architektur-Contors Müller Schlüter (ACMS Architekten GmbH).
Dort steht zu lesen:
Die Stadt Bocholt plant im Rahmen des Gesamtprojektes kubaai das Lernwerk als Zentrum für Begegnungen, Bildung und Kultur in den Räumen des ehemaligen Generalgebäudes der Fa. Herding zu entwickeln.
Zielsetzung ist es, viele Akteur:innen in einem Haus zusammenzuführen. Durch die gemeinsame Nutzung von Flächen sollen sich die unterschiedlichen Gruppen gegenseitig fördern, unterstützen und inspirieren. Die Kommunikation zwischen den Beteiligten soll durch ein offenes Haus angeregt und gefördert werden. Im Entwurf wird dieser Leitgedanke und die besondere Industriearchitektur gestaltprägend berücksichtigt. Die Großzügigkeit und Einzigartigkeit des historischen Gebäudes soll im „Lernwerk“ weiter verfügbar bleiben.
Kreative Einheiten sind als Teile des Ganzen in die weitgehend belassenen industriellen Produktionsebenen eingestellt. Die Erschließungs- und Aufenthaltszonen durchziehen das offene Haus, sodass es in allen Bereichen erlebbar wird.
acms-architekten.de/ detailseiten-projekte/lernwerk-bocholt
Mal schauen, ob Anspruch und Wirklichkeit Hand in Hand gehen!
Mittwoch | 18. Oktober 2023 | 15.00 Uhr | Industriestraße 1 | 46395 Bocholt | LernWerk Bocholt
Wir umlaufen den Bauzaun an der Vorderseite des Gebäudes, um unsere beiden Gesprächspartner vor dem
Eingang des ehemaligen Spinnerei-Komplexes zu begrüßen.
Vier Etagen auf rund 5.500 m² Gesamtfläche gilt es gleich zurückzulegen, um einen umfassenden Einblick zu gewinnen, verrät uns Jule.
Mit dem Namen „LernWerk“ soll die gute Verbindung zwischen dem Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), als Eigentümer des Textilwerks, und der Stadt Bocholt unterstrichen werden, so Thomas Waschki. Beiden Gebäuden sei gemein, dass sie mit der erhaltenen Gebäudesubstanz an die Wurzeln Bocholts als Textilstadt erinnern – aufgelockert durch moderne Elemente. Was beim Textilwerk die moderne Skylounge auf dem Gebäude ist, sei beim LernWerk der neue Kubus, der an zentraler Stelle in die historische Bausubstanz integriert wurde.
Der erste Eindruck – außen
Vor genau diesem besagten Kubus stehen wir jetzt und bestaunen dessen Material, das zumindest für uns neuartig und aus der Distanz nicht erkennbar war. Ein Mesh-Gewebe passt, wie wir erfahren, perfekt zur ursprünglichen Widmung des Gebäudes, und wurde auch innerhalb des LernWerks akzentuiert eingebracht.
Jule lenkt unseren Blick auf die historische Fassade, rechts neben dem Kubus.
Das zugemauerte Fenster oben links, mit seinen Schriftzeichen, sei eine kleine Hommage an die Zeit, als das denkmalwürdige Gebäude für kulturelle Zwischennutzungen freigeben war.
Eine spannende Symbiose zwischen Alt und Neu bilanzieren wir, als wir uns an die rechte Gebäudeseite des Backsteingebäudes begeben. Dort blickt man auf den Anbau, dem in der neuen Widmung der Name „Appendix“ zugeordnet wurde. Wenn ihr das googeln solltet:
Ich glaube, damit ist eher nicht der Wurmfortsatz am Blinddarm gemeint, sondern ein Anhang im Allgemeinen 😉
Jedenfalls: in dem Gebilde, das sich laut Jule über 300 m² auf zwei Etagen erstreckt, wird sich demnächst die freie Kulturszene Bocholts entfalten können.
eile des Backsteinbaus sind frisch verputzt. Anhand der zackigen Umrisse im oberen Bereich ist ablesbar, dass hier seinerzeit die klassischen Hallen der Weberei angedockt waren, mit ihren ungleichschenkeligen Giebeln.
Notiz an mich selbst: Ich breche mir gerade die Figur bei der Beschreibung von architektonischen Details, von denen ich ziemlich wenig Ahnung habe. Aber … wir sind ja auch kein Architektur-Magazin 😉 Hoffentlich wirds innen drin einfacher.
Der erste Eindruck – innen
Rechts vom Eingang befindet sich der Empfang nebst hinter da liegen mehrere Backoffices.
Das Foyer wirke möglicherweise ungewohnt flach, erklärt der Kulturdezernent … aber … als wir die circa 20 Meter, über den noch abgedeckten anthrazitfarbenen Guss-Asphalt, zurückgelegt haben, offenbart sich ein atemberaubender Blick durchs offene Treppenhaus, bis hoch zum Glasdach, oberhalb der vier Etagen.
Ein gigantischer Wow-Effekt, unterstrichen von einem extrem geschmackvollen Material- und Farbmix. Wir sehen eine Armee von „roten Stelen“ – allesamt in der riginalfarbe lackiert. Wie farbenfroh unsere „Vorfahren“ bisweilen waren. Alle sind sich sicher, dass es etwas heller als Ochsenblutrot ist, ohne die genaue Bezeichnung oder RAL-Farbe zu erinnern. Ist auch nicht wichtig. Wichtig ist, dass sie einen tollen Kontrast eingehen, zur wiederum in Anthrazit gehaltenen Treppe, nebst Geländer.
Eine von vier Treppen, die sich durch die Ecken des LernWerks ziehen – unterstützt von einem Aufzug. Im hinteren Bereich befindet sich das offensichtlich rustikalste Treppenhaus.
Unverputzte Wände mit Spuren des Originalzustands der Spinnerei.
Ich muss noch mal zurückgehen. Der ungehinderte Blick, die Treppe entlang bis zum Glasdach, dürfte noch einige Fotografen in Verzückung versetzen – möglicherweise auch die Verantwortlichen, jetzt … wo das neu errichtete Glasdach endlich dicht ist.
Ein Wassereintritt in diesem Bereich war nämlich einer der größten Entschleuniger zur geplanten Eröffnung des LernWerk im Herbst 2023, so Thomas Waschki.
und Zuhause für …
… circa 35 feste Mitarbeiter des Fachbereichs Kultur und Bildung | dazu kommen ca. 50 LehrerInnen der Musikschule | … ca. 2.000 SchülerInnen der Musikschule | … die TeilnehmerInnen nebst den Unterrichtenden der Volkshochschule Bocholt | … die freie Kulturszene Bocholt | … deutsch-ausländischen Vereine – nebst Integrationsrat | … die Junge Uni | … die Lernwerkstatt des Kreises Borken
Jule, wie viele Menschen sind hier im Vollbetrieb unterwegs?
Wir gehen von ca. 300 Menschen pro Tag aus.
Einblicke & Eindrücke
Wir bewegen uns von Raum zu Raum, von Etage zu Etage. Immer vorbei an den roten Stelen, Elementen mit dem Mesh-Gewebe, wechselnden Farb-Konzepten in den Etagen – bis aufs Dach. Hier eine kleine Bilanz unserer Eindrücke – in Stichworten: Der Veranstaltungsraum
Ausreichend für 180 Personen | mit einem großen Vorraum zum Empfang | in der Mitte teilbar, um eine Doppelbelegung zu ermöglichen | 6 m x 4 m Bühnenfläche, 50 cm erhöht | eine LED-Wand im Rücken der Bühne | Möglichkeiten, eine Kino-Atmosphäre zu schaffen | akustische
Segel, die den Schall absorbieren und zugleich den Raum mit Kühle oder Wärme regulieren (ohne dass sonstige Heizkörper benötigt werden) | honigfarbenes Parkett, was unter einem Schutzteppich auf die ersten Gäste wartet | Induktionsschleifen, in die sich Menschen mit einer Hörbehinderung mit ihren Geräten zuschalten können | mögliche Blicke durch das Mesh-Gewebe nach draußen – aber nicht umgekehrt
Neben den naheliegen Nutzungen, wie z. B. Konzerten der Musikschule, würden sich Ausschuss-Sitzungen anbieten … auch sei schon die erste Ratssitzung vorgemerkt worden, berichtet Jule Wanders.
Deren Datum haben wir nicht hinterfragt. Denn: „Gras wächst auch nicht schneller, wenn man daran zieht.“ 😉
v. l. n. r. Jule Wanders, Thomas Waschki, Roland Buß
Das Koch-Areal der Volkshochschule (VHS)
Vier Kochinseln | viel Raum für Gruppen bis zwölf Personen | Zugang zur Terrasse nebst Außentreppe zur Bocholter Aa | Möglichkeit der unkomplizierten Verköstigung der zubereiteten Speisen an der fließenden Hauptschlagader unserer Stadt
Meeting-Räume …
… die aufgrund ihres Zuschnitts, der weder quadratisch oder rechteckig ist, Raum dafür bieten, die Dinge ein wenig anders zu betrachten. Schräge Ecken und gelegentlich im Weg stehende rote Stelen, die dazu einladen, eine andere … vielleicht „schräge“ Sicht einzunehmen
Malen & Zeichnen | Gymnastik und Meditieren
Diese Räume der VHS liegen direkt nebeneinander. Beide bieten einen inspirierenden Blick über Bocholt … lichtdurchflutet und trotzdem smart verschattet, durch das besagte Mesh-Gewebe.
„Auch geeignet für andere Zwecke, wie Vorträge“, ergänzt Jule, was den multifunktionalen Eindruck vieler Räume unterstreicht.
Der teuerste Raum …
… sei der mit den Instrumenten der Musikschule, laut Thomas Waschki … da allein schon ein Kontrabass leicht einige Tausend Euro kosten kann.
Die lautesten Räume …
… seien sicherlich die Probenräume für die Bands der Musikschule, leicht zu erkennen an den doppelten Türen | Die Bodensteckdosen in einem größeren Raum seien das untrügerische Zeichen für einen Versammlungsort von Musikern mit elektronischen Instrumenten wie Keyboards… also definitiv nicht leise.
Die Integration der akustischen Verhältnisse, die eine Musikschule naturgemäß mit sich bringt, sei eine der größten Herausforderungen gewesen, laut Jule.
Wir betreten einen Raum für die musikalische Früherziehung – den Raum, den ich fast fünfeinhalb Jahrzehnte dringend gebraucht hätte. Ausgestattet mit dem Rhythmusgefühl eines Klapperstorchs auf Ecstasy hätte ich so gerne dort die Schulbank gedrückt … leider schieße ich mittlerweile deutlich über die Kernzielgruppe hinaus 😉
Der Appendix
Wie geschildert sind es 300 m² über zwei Etagen. Passend zu unserem Rundgang setzt die Musik über die Hausanlage ein … Fazit: Soundcheck gelungen … und die Musikauswahl des „auflegenden“ Bauarbeiters deutet die kulturelle Vielfalt an, die hier demnächst viele Bühnen haben wird.
Die Außentreppe & die Decks
Die Gitterroste der Treppen und Terrassen bilden einen weiteren stylischen Kontrast zum historischen Gebäude. Zugleich bieten sie eine Mutprobe für eine gewisse Lady, die sie mit der Kamera im Anschlag betreten muss. Auch wenn es kaum möglich scheint, meine Frau kann durch jedes der circa drei Zentimeter großen Löcher im Rost den gähnenden Abgrund spüren 😉
Ein wenig Ruhe kehrt ein, als wir von einem solchen Außendeck auf die Sitzquader an der Aa blicken. Eine Option für spontane Sessions der Musikschule oder den Verzehr eines Potts Nudeln aus der Kochschule, meint Jule. Es fällt der Begriff „grünes Klassenzimmer“ … mir kommt der Begriff „blaues Klassenzimmer“ in den Sinn, angesichts der vorbeifließenden Aa, aber … wegen des derzeitigen Wasserstandes dürften dort vornehmlich Baby-Plattfische auf Diät anzutreffen sein 😉
Das begehbare Dach
Dachbegrünung und Solarpanels werden folgen. Hoffentlich auch eine Rooftop-Bar und Lounge-Areale … was für ein Spot. Wow! Die Wegbeleuchtung und Thomas Waschki bestätigen unsere Annahme, dass Flanieren hier erlaubt ist … möglicherweise auch ein Flying-Dinner aus der
VHS-Kombüse ;-)? Die kulinarischen
Gäule gehen mal wieder mit mir durch.
Fazit
Die Räume, die wir gesehen und erlebt haben, entfalten eindeutig ihre gewünschte Wirkung, nur schwer bekommen wir unsere Inspirationen und Ideen in den Griff.
Wer dieses Gebäude betritt, muss sich bewusst sein, dass fortan keine Ausreden mehr gelten. Wen ein solch stimulierendes Umfeld nicht inspiriert, der dürfte vom Thema Kreativität ungefähr so weit
entfernt sein wie ich von der Musikalität. 😉 Das ist nicht weiter schlimm – dann überlässt man die Bühne den anderen und besinnt sich halt aufs passive Genießen.
Apropos Genießen. Wir haben ihn
genossen, diesen zwei Halbzeiten dauernden Rundgang durch das LernWerk. Eine
ehemalige Spinnerei … einen symbolhafteren Ort für ein Epizentrum der Kreativität hätte man kaum finden können.
Geschaffen und ermöglicht von
Menschen, die alles andere als Spinner sind, als die sie gelegentlich und leichtfertig bezeichnet werden.
Wir haben höchsten Respekt vor den Menschen, die daran ihren Anteil
hatten und haben. Zu gerne würden wir
an dieser Stelle jeden einzelnen namentlich auflisten, doch die Sorge, dabei
jemanden zu vergessen, überwiegt.
Von daher ein herzliches, kollektives MERCI.
Wir sind sichtlich beeindruckt und freuen uns mit euch auf ein weiteres Novum, das unsere Stadt auszeichnen wird – wann auch immer es tatsächlich eröffnet wird 😉
Wir haben lange darauf gewartet, jetzt kommt es auf einen Schnaps nicht mehr an, wie man in der Region zu sagen pflegt, oder?
Herzliche Grüße
Die Kultur-Gefährten der Stadt Bocholt
PS: Während wir diese Zeilen niederlegen, verfolgen wir die Kommentierungen zum LernWerk auf der Facebookseite unserer Stadt. Wir können nachvollziehen, dass die Front des Gebäudes irritiert – weil wir es jenseits des Bauzauns ähnlich empfunden haben.
Der Vergleich mag hinken, aber … unser Early-View-Rundgang erfolgte einen Tag nach unserer Rückkehr von einer Tour mit einem geliehenen Wohnmobil zu den Oberitalienischen Seen. Eine Premiere für uns. Bis zu diesem Zeitpunkt erschien uns kein Hersteller dieser „rollenden Nester“ (auf Zeit) in der Lage zu sein, ein Wohnmobil nach unserem persönlichen Geschmack zu gestalten.
Fazit nach der Tour: Wir waren zu sehr auf Äußerlichkeiten fixiert. Wichtig ist, was sich innen abspielt – wie bei so vielem ;-).
Noch ein PS — diesmal von Jule Wanders:
Im Zuge der Baumaßnahmen, wurde es erforderlich, ein neues Treppenhaus zu schaffen, welches dringend Licht benötigte. Das ist der Grund, weshalb die linke Fensterfront umgebaut werden musste.
LernWerk Bocholt
Industriestraße 1 | 46395 Bocholt
Facebook: @stadt.bocholt
stadt.bocholt